1. Endlich Frieden

 

"Nee, sowat aber ooch!" Klara Neuss, eine rüstige, schmal gewordene Fünfzigerin, setzte die Taschen ab und stemmte die Arme in die Seite. Der Wintermantel schlotterte ihr um den Leib. Unglaublich! Da hatten die Russen ihr doch den Panzer direkt vor die Toreinfahrt gesetzt! Wie sollte man denn da ins Haus kommen?

 

"Kläre, mach dir dünne!", rief es aus einem Fenster im zweiten Stock. Jemand kicherte. Klara stellte die Taschen ab und sah an dem brandgeschwärzten Haus empor. Aha, die Kastnern, war also auch schon zu Hause. Kunststück, die war ja im Luftschutzkeller geblieben, der Weg zum Bunker war ihr im Februar, als es Tag und Nacht Bomben schneite, zu weit gewesen.

 

"Nee, det Jehetze", hatte sie abgewehrt, "damit bleib mir vom Leibe. Da bleib ick lieber, wo mir der Arsch anjewachsen is, und wenn ick dot bin, bin ick eben dot. Denn isset mir ooch ejal, wo ick abnuckel!", hatte sie gemeint, weil Klara gebettelt hatte, die paar Meter zum Bunker mitzurennen. Aber die Kastnern! Hatte ihren dicken Kopf gehabt. Der Luftschutzkeller war ihr lieber als der Bunker, wo man in Sicherheit war.

 

Gottlob, das Haus stand noch. Das Nachbarhaus hatte einiges abbekommen, das Vorderhaus war nur noch Ruine, die Außenwand des Seitenflügels eingestürzt. Wie in einer Puppenstube öffneten sich die Zimmer dem Blick, vollständig eingerichtet. Im ersten Stock hing ein goldgerahmter Sonnenuntergang über dem Sofa. Die armen Leute, hoffentlich waren sie noch am Leben. Überhaupt, die ganze Kellerstraße war Ruine, schon seit Dreiundvierzig, aber ihr Haus, in dem sie mit Otto seit den zwanziger Jahren gewohnt hatte, als sie die Rita kriegte, das stand noch. Gott sei Dank.

 

Die Kastnern steckte den Kopf durch den scheibenlosen Fensterrahmen. Klara winkte. "Rita kommt mit den Kindern nach, Siggi ist bei ihr!" rief sie hoch. "Die Russen, weeßt ja, Rita hat Angst. Aber der Otto – hat der sich blicken lassen?"

 

Die Kastnern schüttelte den Kopf. "Nich, det ick wüsste. Aber die Borkmanns, die sind schon oben."

 

Die Borkmanns wohnten im dritten Stock rechts und waren Ritas Schwiegereltern. Rita lag sich mit ihnen in den Haaren, die Schwiegermutter war eine Xanthippe, der Alte geizig und in der Nazipartei.

 

Otto fiel ihr jetzt ein. Seit Januar hatte sie nichts mehr von ihrem Mann gehört. Otto jedenfalls hatte immer gesagt, das hätte die Rita den Neussens nicht antun dürfen, Nazis in der Verwandtschaft. Ein SS-Mann reichte. Damit war der Sohn von Hete, Ottos Schwester, und ihrem Albert gemeint, er war aber mit Dreiundzwanzig schon vor zwei Jahren gefallen.

 

Klara kämpfte sich mit den beiden Taschen durch den Spalt zwischen Russenpanzer und der Mauer des Hauseingangs. Um Jottes willen, was war denn das? Ein Loch in dem Panzer, dass zwei Leute gleichzeitig durchkriechen konnten. Beinahe hätte sie sich an den scharfkantigen Rändern den Mantel zerrissen. Nicht reinsehen, Tote hatte sie zur Genüge gesehen, auf dem Weg vom Bunker nach Hause, auch Volkssturmleute. Das hatte ihr wegen Otto einen Stich ins Herz gegeben. Die Schmeißfliegen über den Leichen, und wie das stank! Sie hatte jedesmal einen Bogen drumherum gemacht, war über bergehohe Trümmer und in halbverschüttete Keller gestiegen, die ganze endlose, zerbombte und mit Splittergräben durchzogene Straße entlang. Wer aber hätte gedacht, dass es noch einmal einen so schönen Frühling geben würde. Nach diesem Krieg.  

 

Sie trat auf Glas- und Holzsplitter, beinahe wäre sie gestolpert. Aber kühl war es im Flur.

 

Nanu, wo war denn das Treppengeländer geblieben? Keine leichte Sache, da hinaufzukommen mit den schweren Taschen. Sie blickte sich um, als suchte sie jemanden, der ihr hinaufhelfen könnte. Unter ihr die Hauseinfahrt, zwei Metallrillen rechts und links für die Pferdefuhrwerke, hinter zur Schmiede auf dem zweiten Hof. Naja, sagte sie sich, jetzt würde niemand mehr an Pferde denken, höchstens ans Pferdefleisch.

 

Von hieraus konnte sie auch den aufgemalten Schriftzug erkennen: Luftschutzkeller, den Pfeil, der zur Buchte zeigte. Buchte, das war der Keller. Das Haus war alt, in den siebziger Jahren schnell hochgezogen für die Leute, die vom Land gekommen waren, als sich dort Industrie angesiedelt hatte, Schering zum Beispiel. Oder die Amerikaner mit ihren Daimon-Werken. Auf dem Weg nach Hause war sie daran vorbeigekommen, auch die Daimon-Werke waren schon Dreiundvierzig zerbombt worden, nur noch die weißgekachelten Keller waren übrig geblieben.

 

Der Luftschutzkeller war dunkel und niedrig, die Männer mussten sich bücken, sonst hätten sie die Spinnweben von der Decke heruntergerissen. Außerdem stank es nach Moder und Ratten. Nein, gern war Klara nicht in den Keller gegangen. Da unten hocken und wissen, dass einem die nächste Bombe das Haus überm Kopf wegputzt. Anfangs, so um Dreiundvierzig, als nur wenige Bomben gefallen waren, ging es ja. Aber ab Vierundvierzig war sie lieber die zweihundert Meter zum Bunker gerannt. Außerdem hatte Otto, der damals noch bei der AEG Kranführer war, darauf bestanden.

 

Die Tür rechts gehörte Rohrbachs. Falls sie noch am Leben waren. Die beiden Alten waren an Krückstöcken mit ihr zum Bunker gehumpelt, damals im Februar, als noch lange nicht ans Kriegsende zu denken war. Wenn sie bloß nicht zum Plündern bei Hertie rausgegangen wären, als noch geschossen wurde. Hatten ja nicht hören wollen und sind nicht zurückgekommen.

 

Sie quälte sich mit den Taschen hoch. Auf dem halben Treppenabsatz hätte sie sich am liebsten die Nase zugehalten, die lange nicht benutzten Klos im Treppenhaus stanken zum Gotterbarmen. Jesus, mach, betete sie, dass wenigstens die Wohnung in Ordnung geblieben ist, du weißt, dass Otto immer pünktlich die Kirchensteuer gezahlt hat. Endlich hatte sie es die Treppen hochgeschafft, sie stand vor der Wohnungstür. Die Tür war nur angelehnt, die Füllung in Fußhöhe eingetreten. Schöner Schreck! Sie lauschte: Hatte sie nicht ein Atmen gehört? Ein Russe? Hinter der Treppe, wo die Tür zur Kombüse war? Sie hielt inne: Irrtum, nichts. Vorsichtig stieß sie die Tür mit dem Fuß auf.

 

Ihr erster Blick fiel in die Stube. Der Kleiderschrank stand sperrangelweit offen. Ottos guter Anzug, Siggis Schulbücher und ihre Sommerkleider lagen verstreut im Zimmer herum. Der hohe Spiegel, Schwägerin Tutti hatte ihn Trumeau getauft, hatte sich aus der Wandverankerung gerissen und hing schräg ins Zimmer. Der Tisch vor dem mörtelverstaubten Sofa, Ottos gutem Stück, war in die Stubenmitte gerückt worden, die Stühle umgeworfen. Auch das Vertiko, sah Klara, war nicht verschont worden, die Fotos und Nippes waren verschwunden, die Schublade lag auf dem Fußboden, die Familienfotos lagen verstreut herum. Ein Glück, das Bettzeug war nicht aufgeschlitzt worden. Nazisoldaten, versteckte Waffen und Hitlerbilder hatten die Russen gesucht, im Bunker hatten alle davon gesprochen.

 

Wo anfangen hier mit dem Aufräumen? Sie bückte sich, hob ein paar Fotos auf. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, ein Schluchzen kam tief aus der Brust. Sie stellte sich einen Stuhl zurecht, mit der bloßen Hand wischte sie ihn ab, setzte sich und starrte durch die leeren Fensterrahmen in den Himmel. Es war still. Ein Totenhaus, die ganze Welt war ein Totenhaus. Und besonders die Kellerstraße 11. 

 

                                                                          ***

  

Rita und Siggi kamen mit den Kindern Jo und Veronika erst Mitte Mai aus dem Bunker nach Hause. Siggi, der Sechzehnjährige, schwitzte. Als er den Rucksack abstellte, sah Klara entsetzt den nassen Rücken des Jungen, aber nicht das Schwitzen war schuld an der Nässe, sondern Veronikas nasse Windeln, wie sie dann feststellte. Siggi zog die vierjährige Jo an der Hand hinter sich her, auf dem Weg hatte er ihr das Sprechen verboten. Mit zusammengepressten Lippen musterte Jo die Umgebung. Rita trug das schlafende, in eine Decke gewickelte Baby im Arm.

 

"Dass ihr endlich kommt." Klara schlug die Hände zusammen.

 

Wortlos legte Rita das Kind auf den Wohnzimmertisch, umarmte die Mutter und sank auf einen Stuhl. Sie starrte auf den Fußboden.

 

Klara hatte die Stube aufgeräumt. Von der Unordnung war nichts mehr zu ahnen. In halber Höhe, dass noch Licht ins Zimmer fallen konnte, waren die scheibenlosen Fenster mit Brettern vernagelt. Klara hatte sie aus den Trümmern im Nebenhaus gesammelt.

 

"Ach ja, Rita, oben war ich noch nicht." Klara meinte die Wohnung der Tochter im zweiten Stock. Rita reagierte nicht. "Wird schlimm aussehen, die Russen haben alles durchwühlt", sagte Klara, und weil Rita sich immer noch nicht rührte: "Sitz doch nicht da wie Bismarck uff'm Sockel."

 

"Ja", sagte Rita endlich. "Haut mich nicht um."

 

Seit ihrer Hochzeit Zweiundvierzig wohnte sie einen Stock höher, über der Wohnung der Eltern: die Stube, die Küche winzig. Mit der Tür von Riecherts im Flur.

 

"Sind Riecherts schon da? Und Vater?" Müde blickte Rita die Mutter an.

 

"Bis jetzt nicht. Wenn ich bloß wüsste, ob er noch lebt." Klara wischte mit der Schürze im Gesicht herum.

 

Siggi hatte sich währenddessen mit Jo beschäftigt, ihr den Mantel ausgezogen und sie mit strengem Blick auf einen Stuhl gebannt. "Zeig mal deine Hände!"

 

Jo streckte folgsam die Hände aus und drehte die Handflächen nach oben.

 

"Hab ich es dir nicht gesagt? Dass du die Steine liegen lassen sollst? Dass darunter nur Dreck ist? – Mutter, kann sie sich die Hände waschen?"

 

"Im Eimer unter der Bank in der Küche ist noch ein Rest Wasser. Aber aast nicht so."

 

"Und zu essen?"

 

Klara antwortete nicht. Wortlos ging sie über den Flur in die Küche dem Jungen voran, öffnete den wuchtigen Küchenschrank und zog einen abschließbaren Holzkasten hervor. Otto hatte darin mal seine Werkzeuge aufbewahrt. Sie griff unter die Schürze, zog einen verschnörkelten kleinen Schlüssel hervor, mit dem sie den Kasten öffnete. Noch immer wortlos, schnitt sie von dem harten Stück Kastenbrot die Hälfte ab. "Teil es dir mit Jo. Kein Mensch weiß, ob und wann ich wieder zu Brot komme. Jetzt, wo du da bist. Und Rita mit den Kindern."

 

Siggi murrte nicht. Großmütig brach er ein Stück des Brotkantens ab und reichte es Jo. "Aber erst die Hände waschen!"

 

"Ihr habt Sorgen", sagte Rita. "Endlich ist Schluss mit dem Krieg", sagte sie.

 

Klara verstand. Ihr musste Rita nichts erklären. Sie musterte die Tochter. Wie sie dasaß auf dem Stuhl, so gottergeben. "Wegen der Kinder", sagte sie, "mach dir keine Sorgen. Ich nehme die Jo zu mir, du kümmere dich mal um dein Baby."

 

Rita hob den Kopf. "Die Wohnung – halb so schlimm. Aber wo kriege ich was zu essen her? Und Milch, Milch für Veronika?"

 

"Trink einen Schluck Wasser, das füllt den Magen. Sie wollen Brot verteilen, die Russen oder wer, am Nettelbeckplatz, morgen früh. Sagt jedenfalls die Kastnern, die hat ihre Ohren überall. Nimm Siggi mit, der ist gewitzt. Und vorsichtshalber die alten Brotkarten."

 

Rita reagierte nicht. Sie starrte auf die weißgescheuerten Dielen.

 

 

2. Mohrrübeneintopf

 

 

 

Der Mond stand über der Kellerstraße. Neugierig blickte er in die Stube im ersten Stock. Sein silberblasser Strahl fiel auf den Kleiderschrank, dann auf den Tisch, und zuletzt auf Jo und die schlafende Klara im Ehebett. Jo, hinter dem breiten, warmen Rücken der Großmutter, wagte sich nicht zu rühren. Der Mond kniff ein Auge zu und malte mit langen Armen schwarze Gespenster an die Zimmerdecke. Jo kroch unters Federbett. Klara murmelte etwas und zog das Bettdeck schlaftrunken auf ihre Seite.

 

 

 

"Mond, Mond, doofer Mond – bäh!" Jo steckte ihm die Zunge heraus, getraute sich aber nur zu flüstern. "Du wohnst hier nicht! Nur Oma, Tante Heidelinde ist zu Besuch, hör mal, wie sie schnarcht, und Siggi. Und ich. Ich bin stark! Und wenn Opa kommt, der ist noch stärker, der nagelt alle Fenster zu, dann musst du auf der Straße schlafen – ätsch!"

 

 

 

Beleidigt zog der Mond eine Schnute und weiter zur Kellerstraße zwölf.

 

 

 

Klara drehte sich auf die andere Seite. "Schlaf, Kind."

 

 

 

"Ich bin nicht müde. Der Mond, Oma ..."

 

 

 

"Kind, jetzt ist Schlafenszeit. Was redest du da? Mach nicht so viele Fisimatenten, sonst gibt's was hinter die Löffel. Und mach mir die Heidelinde nicht wach!" Klara zog die Enkelin an sich. "Schlaf jetzt!", flüsterte sie streng.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Morgens stand Klara am Herd und beschäftigte sich mit dem Feuermachen. Sie griff sich die Zweige, die Rita von irgendwoher mitgebracht hatte, stapelte sie auf dem Knüllpapier und zündete eines der kostbaren Streichhölzer an. Qualm stieg auf und füllte die Küche. Klara pustete in die Flamme. Na, endlich brannte es! Eine Klara ohne Feuer war wie ein Gewitter ohne Regen. Nun auch noch die Kohlen, sie musste unbedingt im Keller nach dem Rechten sehen, vielleicht übertrieb der Siggi und war bloß zu faul zum Kohlenhochholen. Womit bloß kochen, wenn der Vorrat zu Ende war?

 

 

 

Ein Glück, dass sie überhaupt was zum Kochen hatte. Gestern hatte Siggi fünf halbverschrumpelte Mohrrüben mitgebracht, strahlend wie ein Weihnachtsmann der Junge. Woher, wollte Klara nicht wissen. Aber ihr fehlte ein Bettbezug, noch von der Hochzeitsausstattung. Zeiten waren das. Das gesparte Geld war nichts mehr wert, immer hieß es nur Ware gegen Ware, nicht so wie früher, als man noch bei Hertie einkaufen gegangen war. Aber ein Glück, dass wenigstens das Organisieren klappte.

 

 

 

Heute gab es also Mohrrübeneintopf. Am besten, sie würde sich das Schaben der Rüben sparen – ein bisschen abspülen mit Wasser, ein bisschen rubbeln zwischen den Fingern, das musste reichen, jede Kalorie zählt. Ihr lief das Wasser im Mund zusamen, als sie die Mohrrüben in Würfel schnitt.

 

 

 

"Jo, mach den Schnabel auf!" Gehorsam sperrte Jo den Mund auf. Klara drückte ihr einen Mohrrübenwürfel auf die Zunge. "Nicht gleich zerkauen, lutsch dran, dann hast du mehr davon."

 

 

 

Der Qualm hatte sich verzogen, der Mohrrübeneintopf stand schon auf dem Feuer. Viel Wasser, keine Kartoffeln zum Andicken – wer sollte davon satt werden! Siggi, noch im Wachstum, verzichtete sowieso großzügig aufs Essen, wenn er abends kam. Ach Gottchen,

 

wenn sie den Jungen nicht hätte, verhungern müssten sie alle, Heidelinde und Rita und die Kinder. Dabei sollte Siggi schon längst wieder in der Schule sein, Klara hatte im Radio gehört, in den Schulen gebe es jetzt provisorischen Unterricht.

 

 

 

Klara rührte im Topf, ein Auge auf Jo geworfen, die den Mohrrübenwürfel wie ein Bonbon lutschte. "Darf ich das Ding jetzt kauen?"

 

 

 

Im selben Moment war es Klara, als hätte sie aus der Stube einen Schrei von Heidelinde gehört. Sie stürzte aus der Küche. Gott sei Dank, es war nichts. Heidelinde lag friedlich im Bett, das zerwühlte Haar überm Gesicht. Sie schnarchte leise. Klara hörte einen Moment lang zu, ehe sie behutsam die knarrende Stubentür schloss.

 

 

 

Die arme Heidelinde. Vor ein paar Tagen hatte sie vor der Tür gestanden, mit zerrissenem Kleid, völlig aufgelöst, wirres Zeug redend. Klara hatte nur was von Russen verstanden, von der Scharnhorststraße, wo alles in Trümmern lag, und die Schwester gleich ins Bett gesteckt.

 

 

Kummer schwitzt sich am besten aus. Seitdem aber war Heidelinde nur zum Pipimachen aufgestanden, hatte nichts essen wollen und nur noch geschlafen, Tag und Nacht. Nachts war Klara ein paarmal aufgewacht von Heidelindes Schreien. Richtig beängstigend war das.

 

Sie wird doch nicht etwa meschugge geworden sein? Sie musste den Doktor Holstein holen. Falls sein Haus in der Reinickendorfer noch stand.

 

 

 

Jo saß noch immer wie eine Eins auf dem Kohlenkasten, als Klara wieder in die Küche kam.

 

"Ich will malen, Oma!"

 

 

 

Klara verschwand wortlos und kam mit einem Bleistiftstummel wieder und einer Seite aus einem von Siggis Schulheften. "Mal mir mal was Schönes, richtige Häuser, Kind."

 

 

 

"Ich male doch richtige Häuser, Oma." Jo war beleidigt.

 

 

 

"Aber immer nur kaputte. Davon haben wir vor der Haustür genug. Die musst du nicht auch noch malen."

 

 

 

"Wie sehen denn richtige Häuser aus?"

 

 

 

"Na, mit Dach, und aus dem Schornstein kommt Rauch raus. Ein paar Männeken am Fenster. So sieht ein richtiges Haus aus, Jo."

 

 

 

Mit Feuereifer begann Jo zu malen.

 

 

 

Klara stand dabei und ließ kein Auge von dem Kind. Nun musste sie mit einem Stiefvater groß werden, die arme Kleine. Die Jo hatte Rita sich eingefangen, auf einer Betriebsfeier, vom Chef. Der wollte natürlich nichts davon wissen. Aber nun auch noch den Borkmann heiraten! Otto hatte sich das damals nicht lange mit angesehen, ein uneheliches Balg in der Familie, das kam bei Otto nicht vor! Aber ausgerechnet den Borkmann, ausgerechnet! Den musste Rita heiraten! Eine Sippschaft, die Borkmanns! Der Alte, Buchhalter auf einer Klitsche – Klara überlegte: in Neukölln? Oder war es Wilmersdorf? -, erst bei den Roten und dann zu den Nazis gegangen. Ehe Ritas Galan eingezogen wurde, soll der sich ja mit seinem Alten gekloppt haben, der junge Borkmann. Der Alte wollte ihn verpfeifen, sagt die Kastnern.

 

 

Ja, die Leute reden, allerhand reden sie, und der Alte lief dann aus Daffke mit Naziabzeichen am Jackett herum, eine Schande fürs ganze Haus. Aber den eigenen Vater verprügeln, Herrgott. Wenn er nun mal nur nicht auch noch die Rita … Aber sie wird ihn schon kennenlernen, soll sehen, wo sie bleibt. Und mit sowas waren sie nun verbandelt worden, sie und Otto mit seiner SPD, der sich mit dem alten Borkmann bis aufs Blut in der Wolle gelegen hatte, als der noch bei den Roten war. Und mit sowas also waren sie von der Rita verbandelt worden, weil die Rita … Man will ja nichts sagen gegen Chefs, aber dass die Rita nun einen Vater brauchte fürs Kind, wegen Otto, der hatte ihr ja die Hölle heißgemacht, da musste sie als stolze Großmutter doch damang gehen – und nun also der junge Borkmann. Aber Schwamm drüber, passiert ist passiert. Wenn sich Klara für die Tochter auch eine bessere Partie hätte ausmalen können.

 

 

 

Aber ach, die Kleene, wie sie dasitzt. Und die Zunge malt mit. Intelljent, das Kind. Na, von Rita hat sie das nicht. Ja, Otto hatte schon recht: Woher soll denn die Intelljenz herkommen, wenn die Rita nur Tanzen und Männer im Kopf hatte – Weiber! Aber diesen Schwiegersohn hätte die Rita ihr und ihrem Otto ersparen können. Soll ja Kommunist geworden sein bei den Russen. Herrje, wenn Otto das wüsste, das mit dem Kommunisten – das konnte sie ihm doch gar nicht schreiben in das Lager bei den Russen. Otto hatte eine komische Karte geschickt, von irgendwo aus der Nähe von Berlin, dass es ihm gut geht.

 

 

 

"Zeig mal, Jo." Klara hielt das Bild weit von sich. "Hm, bildschön. Und was soll das hier sein?" Sie wies auf einen verkritzelten Fleck. "Ein Misthaufen?"

 

 

 

"Aber Oma! Das ist doch die Sonne! Das sieht man doch!"

 

 

 

"Da kannst du mal sehen, die Erwachsenen. Keine Ahnung, was die Künstlerin gemeint hat. - Aber jetzt muss ich was tun, sonst läuft der Siggi nackt herum!"

 

                                                *

 

 

 

Klara nähte am liebsten auf dem Küchenstuhl neben dem Ausguss. Die Augen wollten auch nicht mehr so recht, aber wo sollte sie eine Brille hernehmen in diesen Zeiten? Prüfend hielt sie die Hose gegen das Licht. Was der Junge aber auch wächst, wenn es so weitergeht, passen ihm auch Ottos Arbeitshosen nicht mehr.

 

 

 

Jo hatte genug gemalt, sie quengelte. "Hör mal ein bisschen Radio", schlug Klara vor. Sie stellte das Radio an, die Goebbelsschnauze aus der Zeit noch vor dem Krieg, die links auf dem Küchentisch stand. Das Radio brachte bloß Trauermusik. Wann würden die bloß wieder richtige Musik bringen? "Wenn der weiße Flieder wieder blüht" oder die herrlichen Lieder aus "Maske in Blau" – das war Musik, richtige Musik, da vergaß man das Elend.

 

 

 

Jo stand vor dem Küchentisch und starrte aufs Radio. Das Musikstück war zu Ende, eine Frau sagte das nächste an. "Oma, wie kommt denn die Frau da in dem Radio rein?"

 

 

 

"In den, Jo. Sprich anständig! Aber da ist keine Frau drin, nur ihre Stimme."

 

 

 

"Und die Stimme – wie kommt die da rein?"

 

 

 

Was das Kind aber auch alles wissen wollte "Das ist doch", begann Klara unsicher, "weil sie, also die Leute vom Radio, so Drähte haben, in der Erde, da geht alles durch, die Musik und die Ansagerin In dem einen Haus fiedelt das Orchester, und zu Hause hören die Leute die Musik."

 

 

 

Jo überlegte. "Durch Drähte. Hm, und da geht eine Frau durch, eine richtige Frau?"

 

 

 

"Nicht doch, nicht die Frau. Doch bloß ihre Stimme! Aber, mein Frollein, ich bin keine Studierte, frag mal den Siggi, der weiß alles."

 

 

 

Klara legte Siggis Hose auf den Küchentisch. Sie musste mal nach dem Essen sehen. Tüchtig umrühren musste man, sonst brannte einem die Suppe noch an.

 

 

 

"Oma, ich wollte mal was fragen", unterbrach Jo das Rühren.

 

 

 

"Aha, was hat denn das Frollein?"

 

 

 

"Darf ich auch mal rühren, Oma?"

 

 

 

"Du reichst ja kaum bis an den Herd, wie willst du denn da rühren können?"

 

 

 

"Na, ich stell mich auf den Kohlenkasten. Dann bin ich so groß wie du, Oma."

 

 

 

Also gut, sollte das Kind seinen Willen haben. Klara schurrte den Kohlenkasten vor den Herd, Jo kletterte hinauf. Ängstlich sah Klara zu, wie Jo zu rühren begann. "Aber zappel nicht so ville!"

 

 

 

Jo rührte und versuchte, in den brodelnden Topf zu blicken. "Jetzt reicht es, genug gerührt, Jo."

 

 

 

"Oma, bitte, ich will noch ein bisschen rühren. Ich bin schon ganz groß, sieh mal, wie gut ich rühren kann. Bitte, Oma!"

 

 

 

Jo rührte, schneller und schneller. Plötzlich wankte sie auf dem Kohlenkasten, die Rührkelle fiel ihr aus der Hand, es spritzte. Gelähmt vor Schreck stand Klara dabei, und hätte sie nicht im letzten Moment noch zugreifen können, der schöne, der kostbare Mohrrübeneintopf wäre umgekippt.

 

 

 

"Hab ich dir nicht gesagt", jetzt war Klara wirklich aufgebracht, "hab ich dir nicht gesagt, du sollst nicht immer so ville zappeln! Das hat man nun davon, wenn man der Göre jeden Willen lässt!"

 

 

 

Noch immer zitternd, der Schreck war zu groß gewesen, machte sie sich wieder an Siggis Hose zu schaffen. Wo der Junge heute nur blieb? Murren wird er, über die karierte Borte, mit der sie seine alte Hose verlängert hatte. Hatte auch schon seine Allüren, der junge Herr.

 

 

 

Jo malte wieder. Weit vornübergebeugt, malte sie mit skeptisch zusammengekniffenen Augen. "Diesmal habe ich die Frau aus den Radio gemalt, Oma. Aber man kann sie nicht sehen, sie ist in dem Draht. Sieh mal – schön, nicht? " Jo hielt Klara die Zeichnung vors Gesicht.

 

 

 

Tatsächlich, auf dem Bild war nichts als ein dicker Strich zu sehen, schwarz ausgemalt. Diese Göre, auf was für Sachen das Kind aber auch kam. Klara drückte Jo an sich.

 

 

3. Schwarze Wolken überm Wedding

 

 

 

Als Klara an diesem Morgen erwachte, stank es. So sehr, dass sie glaubte die Klos im Treppenhaus seien verstopft, wie vierundvierzig schon einmal.

 

 

 

Klara war in Fahrt: Der Opitz, der Hausbesitzer, dass er sich nicht um seine Klabache kümmerte! Dem würde sie auf die Bude rücken! Erzählen würde sie dem was, der würde eine Klara Neuss nicht vergessen! Sie beugte sich aus dem Fenster, frische Luft schnappen. Sie fuhr zurück: Himmel, der Gestank kam ja von der Straße! Was war passiert? Sie hielt sich das Taschentuch vor die Nase.

 

 

 

"Oma, mir ist ganz, ganz schlecht." Jo, noch im Nachthemd, lief mit weißem Gesicht durch die Stube, und Klara flitzte in die Küche, um vorsichtshalber den Eimer zu holen.

 

 

 

Es war ein durchdringender süßlicher, penetranter Gestank. Er drang in die Häuser, in die Wohnungen, in die Kleidungen, in die Haut. Beim Gang zum Klo kam ihr die Kastnern entgegen, am frühen Morgen schon gutgelaunt. "Ablösung!", trompetete sie und machte ein unanständiges Geräusch mit dem Mund.

 

 

 

Klara winkte ab: "Lass mal, Erna, mir ist heute nicht nach Spaß. Du Hallodri wirst doch nie erwachsen." Die Kastnern, in grauem fadenscheinigem Morgenmantel und ungekämmt, wiegte sich in den Hüften. "An mir ist wenigstens noch was dran! Nicht so wie bei dir, vorne nischt, hinten nischt. Wohl neidisch?"

 

 

 

Von Erna erfuhr Klara dann auch, warum es so stank: Auf dem Weddingplatz wurden Leichen verbrannt. Man holte die Toten rings aus den Ruinen, aus den eingestürzten Luftschutzkellern, und verbrannte sie. "Steck mal den Kopf aus'm Klo, da kannste die schwarzen Wolken sehen."

 

 

 

Tatsächlich, der Himmel stand tiefschwarz überm Haus. Leichenwolken, Klara schüttelte es. So hätte man auch sie aus dem Keller holen können, sie und Jo und Rita mit der Jüngsten.

 

Gott sei Dank, sie waren dem Tod von der Schippe gehuscht. Aber dass man die Toten einfach verbrannte, so öffentlich. Ein Grab hätten sie verdient, auf dem Friedhof, wie es sich gehörte. Klara wischte an ihren Augen herum. Dass sie so nahe am Wasser gebaut hatte! Das waren doch Leute wie gewesen, bestimmt war sie ihnen früher auf der Straße begegnet, und jetzt brannten sie, namenlos, und kein Pastor hielt die Grabrede.

 

 

 

Aber davon mit der Erna reden? Die sie doch sowieso schon ewig mit der Kirche aufzog? Na, die war schon nach unten gestapft, hatte die Wohnungstür hinter sich zugeknallt, dass es durch Treppenhaus schepperte.

 

 

 

Jo saß mit kläglich verzogenem Gesicht im Bett. "Mir ist schlecht, mir ist schlecht", wimmerte sie. Sogar Heidelinde war erwacht. Mit Augen, die nichts erkannten, drückte sie den Kopf ins Kissen. Sie sabberte. Nun wurde Klara aber doch ängstlich. "Heidelinde, geh mir nicht hops", bettelte sie. "Um zehn kommt der Doktor. Warte, ich bring dir ein bisschen Tee."

 

 

 

Zu ihrer Aufregung klingelte es nun auch noch. Am frühen Morgen! Als Klara die Tochter erkannte, atmete sie auf. "Ach Rita, Gott sei Dank! Die Heidelinde, ich weiß nicht, was los ist. Erst der Leichengestank, und jetzt die Heidelinde. Der Doktor kommt erst um zehn. Setz dich zu ihr, derweil ich Tee mache. Kamillentee, der beruhigt."

 

 

 

Rita wehrte ab. "Die Jo muss zum Impfen, ich hab keine Zeit. Nun reg dich mal nicht so auf, mit Tante Heidelinde wird es schon wieder. Wirst sehen, wenn erst mal der Doktor da war, springt sie dir putzmunter aus dem Bett."

 

 

 

Klara war über Ritas Kaltherzigkeit entsetzt. "Die nicht", sagte sie, "nicht die Heidelinde. So wie die aussieht. – Also nicht. Dann steh mir nicht im Wege und greif dir deine Tochter. Aber mach einen Bogen um den Weddingplatz!"

 

 

 

                                                           *

 

 

 

"Fass an!", befahl die Mutter. Folgsam trippelte Jo neben ihr her, die Faust um die Stange des Kinderwagens, mit der anderen Hand presste sie das Taschentuch vors Gesicht.

 

 

 

"Hab dich nicht so!" Rita war wütend, die Mutter verzog die Göre.

 

 

 

Schon von weitem sahen sie den Menschenauflauf. Alles starrte nach vorn. Eine gelblich-rote Flamme stieg zum Himmel auf, schwarz zog fetter Rauch über den Platz, über die Köpfe der Neugierigen hinweg, hinüber zu den Ruinen. Die Wolke hing über dem Wedding, es war windstill. Die Leute schwiegen. Rita schob den Kinderwagen mitten durch sie hindurch, näher an den Schauplatz heran, wo Männer am Holzstoß beschäftigt waren und mit Stangen darin herumstocherten.

 

 

 

Ein Pferdefuhrwerk bewegte sich von den Ruinen weg, kam näher. Die Pferde schnaubten, es waren starke, schwere Kaltblutpferde. Der Kutscher fluchte und schlug mit der Peitsche auf die Tiere ein, als es in eine Kurve ging. Das rechtslaufende Pferd schlug auf dem Kopfsteinpflaster aus, Funken sprühten unter den Hufen, das Pferd drohte zu stürzen. Durch die Leichen auf dem Plattenwagen ging eine Bewegung, er neigte sich. Die Menschenmenge stöhnte, Jo schrie auf.

 

 

 

Rita hatte genug gesehen. "Komm, das ist nichts für Kinder." Jo weinte. "Heul nicht, wir müssen weiter. Und dass du mir Oma nichts sagst von den Leichen. Sonst gibt's was hinter die Ohren!"

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Die Ärztin war Amerikanerin und trug unter ihrem weißen Kittel Uniform. Sie sprach etwas, es klang freundlich. Jo sah mit großen Augen zu, als die Spritze aufgezogen wurde.

 

 

 

"Keine Angst, Augen zu." Die Ärztin streichelte ihr den Kopf, Jo fühlte den Einstich an ihrem Arm. "Schlimm?" Die Ärztin lächelte.

 

 

 

"Nein. Nur ein bisschen."

 

 

 

Die Ärztin lachte. "Du bist froh? Tapfer, Johanna."

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Klara, als Rita die Tocher wieder abgab, atmete auf. "Der Doktor hat Heidelinde eingeliefert, nach Wittenau. Was Heidelinde eigentlich hat, war nicht zu verstehen, irgendso eine studierte Krankheit. Sonntag gehe ich hin. Und du, Jo, kommst mit."

 

 

 

Jo erschrak. "Nein, ich will nicht ins Krankenhaus! Da sind auch Leichen, sagt Siggi."

 

 

 

"Rita!" Klara war empört. "Du warst doch nicht etwa …? Dass du dem Kind das antun musst! Wo sie doch sowieso schon so zappelig ist. Hab ich dir nicht gesagt, du sollst einen Bogen um den Weddingplatz machen! Und ich habe hinterher die Sorgen."

 

 

 

"Was ist das, Oma – Sorgen?"

 

 

 

Klara schüttelte den Kopf. "Davon verstehst du noch nichts, das ist was für Erwachsene. Erfährst du früh genug. Geh spielen, in die Küche, ich hab was mit deiner Mutter zu bereden. Der fehlt die starke Hand. Benimmt sich …"

 

 

 

Nachts phantasierte Jo, und morgens musste Klara wieder den Arzt holen. Jo fieberte und hatte Kopfschmerzen.

 

 

 

Doktor Holstein horchte an Jos Brust. "Hat die Kleine eine Aufregung gehabt? Organisch kann ich nichts finden. Die Lunge ist ein bisschen schwach. Sonst nichts."

 

 

 

Klara log. "Nicht, dass ich wüsste. Wird wohl noch vom Krieg sein, von den Bomben und dem Gehetze. Es rächt sich eben alles. Oder von der Spritze. Als ob ich nicht genug Sorgen hätte."

 

 

 

Jo hatte zugehört. "Es tut schon gar nicht mehr weh, Oma", flüsterte sie. "Ich will aber nicht ins Krankenhaus, zu den ollen Leichen."

 

 

 

Der Doktor lachte. "Richtig so, lass dir Zeit damit, kleines Fräulein. Milch müsste sie trinken, Frau Neuss. Und Obst essen, viel Obst."

 

 

 

Klara nickte. "Nächstes Jahr, wenn wir im Park die Parzelle haben. Bis dahin muss es der Kamillentee tun, Herr Doktor." Den Rest ihrer Antwort schluckte sie höflich hinunter.

 

 

4. Brennholz

 

 

 

Das von Klara so lange Erhoffte war geschehen: Otto, Ottochen stand vor der Tür!

 

Abgemagert, der Ärmste! Nur noch Haut und Knochen. Klara kam es so vor, als sähe sie ihn heute zum erstenmal. Wortlos schritt er durch den Flur, in die Stube, saß dann, immer noch stumm, am Tisch und sah sich um. Nickte: Seine Klara hatte die Wohnung behütet.

 

 

 

Den ganzen ersten Tag blieb Otto im Bett liegen. Im Zimmer mit den pappevernagelten Fenstern (Klara hatte die Bretter nun doch verheizt) stand der erste Frost. Klara überfiel Otto mit ihrem Kamillentee, und folgsam wie ein Kranker ließ er sich von ihr bemuttern. Während er schlief, saß sie am Bett und lauschte auf sein Schnarchen. Glücklich, denn jetzt war sie eine Sorge los: Otto würde sich um Essen und Brennholz kümmern können. Endlich wieder ein Hausherr bei Neussens. Zusammengerollt wie eine Katze lag der Hausherr im Ehebett. Mit seinen Einsneunzig hatte er nie gewusst, wohin mit seinen Beinen. Aber ihr Otto war nicht wiederzuerkennen, so abgemagert bis auf die Knochen. Richtig zusammengeschrumpft, dachte sie. Sie seufzte.

 

 

 

Jo ließ sich in der Stube nicht mehr blicken. "Bleibst heute in der Küche!", hatte Klara befohlen. Denn gleich am Abend, als Otto Jo in Klaras Bett liegen sah, polterte er los: Was denn die Göre hier zu suchen habe! Die gehörte doch nach oben, in Ritas Behausung! Seine alte Wut über Ritas Dämlichkeit, sich das Balg andrehen zu lassen. Jo war wachgeworden und weinte.

 

 

 

"Das Kind, Ottochen! Sag es der Rita ins Gesicht."

 

 

 

"Worauf du Gift nehmen kannst!" Otto beruhigte sich und legte sich in sein Bett, in dem seit Heidelindes Einlieferung ins Krankenhaus Siggi geschlafen hatte. Aus dem Seufzen war kein Herauskommen mehr, wenn Klara an gestern abend dachte. Otto war eben doch der alte Otto.

 

 

 

Siggi schlief seit gestern wieder in der Küche. Spätnachts holte er die Matratze aus der Kombüse unter der Treppe. Am frühen Morgen, früher als sonst, ging er los, zur Schule, ohne den Vater begrüßt zu haben. Klara glaubte, in seiner Miene etwas wie Trotz gelesen zu haben. Er war eben in der letzten Zeit zu selbstständig geworden. Und Otto vertrug keinen Widerspruch. Na, das würde was geben, wenn Otto erst wieder auf den Beinen war.

 

 

 

Jo saß in der Küche auf ihrem Stammplatz, dem Kohlenkasten, und sah verängstigt auf, als Klara eintrat. "Muss ich jetzt nach oben, zu Mutti?"

 

 

 

"Mal sehen, was der Opa dazu sagt. Meinetwegen bleib, Kind. Aber der Opa und ich, wir sind doch schon alte Leutchen. Gegen Kinder hat der Opa nichts, aber Kinder, Kindchen, sind ihm zu zappelig." Sie drückte die Enkelin an sich. "Musst nicht zur Mutti, heute nicht und morgen nicht und überhaupt nicht, wenn es nach mir geht. Aber jetzt geht alles nach Opa."

 

 

 

"Ist Opa ein böser Mann?"

 

 

 

Da musste Klara aber lachen. "Nein, nicht böse, aber streng wie ein Gewittergott. Er ist nun mal so. Wie ein General vor der Truppe. Mach immer, was er sagt, dann tut er dir auch nichts."

 

 

 

Jo nickte. Skeptisch, kam es Klara vor.

 

 

 

                                                 *

 

 

 

Hinter der Wohnungstür der Neussens verbargen sich zwei Wohnungen: ihre eigene, Stube und Küche über den Flur, die Tür geradezu aber führte in die Wohnung von Nachbar Krumnow und Frau. Die Krumnows hatten den Sohn in amerikanischer Gefangenschaft. Dem war bei einem Bombenangriff die Frau umgekommen, und so hatten sie den Enkel Ingo, einen sommersprossigen Rotschopf, drei Jahre älter als Jo, zu sich genommen. Über die lange Zeit des engen Beeinanderwohnens hatte es sich eingespielt, dass man beiderseits einer näheren Bekanntschaft aus dem Wege ging. Jeder wusste: Das Hineinschielen in Nachbars Suppentopf bringt nur Ärger. Ein nicht allzu unfreundlich gebrummtes "Morjen" reichte den beiden Männern aus zur Begrüßung, die Frauen redeten manchmal miteinander, wenn sie sich auf dem Flur trafen.

 

 

 

Nachbar Krumnow war seit dem vierzehner Krieg blind. Er kam ganz gut zurecht mit seiner Blindheit. Klara, wenn sie ihm auf der Straße begegnete, hätte ihm gern mal was Liebes gesagt, aber sie befürchtete, ihn an seine Blindheit zu erinnern, und ließ es dann lieber.

 

 

 

Die Berta, seine Frau, war eine vor der Zeit in den Boden gewachsene, abgemagerte alte Frau, die Klara immer nur in ehemals gestreifter, nun aber, nachdem sich der Küchenschmutz von Jahren darauf niedergelassen hatte, einheitlich grauer Kittelschürze sah, egal, ob im Haus oder auf der Straße. Aber reden! Reden konnte sie! Es war, als habe sie, sobald sie den Mund auftat, jeden ihr Leben lang ungesprochenen Satz für diese Gelegenheit aufgespart und würde ihn erst jetzt herauslassen. Klara war froh, wenn sie nach solch einem Gerede, bei dem sie kaum zu Worte gekommen war, die Küchentür endlich hinter sich schließen konnte. Trotzdem, die Bekanntschaft mit Berta Krumnow zahlte sich aus, wenn auch nicht in Naturalien, so doch in nachbarschaftlicher Ruhe auf dem Flur. Otto durfte von Klaras Umgang mit der Berta nichts erfahren, er hätte ihr die Hölle heißgemacht.

 

 

 

Der Krumnowsche Ingo hatte Anweisung, nur im Schlafzimmer zu spielen. Einmal aber ergab es sich, dass er den Kopf aus der Tür heraussteckte. Klara stand mit Jo ausgehbereit auf dem Flur.

 

 

 

"Ach so, bloß eine Mieke!" Ingo wandte sich enttäuscht um.

 

 

 

Jo war beleidigt: "Rotkohlrübe!"

 

 

 

Solcherart waren die nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen den Krumnows und den Neussens.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Heute aber, gleich am Tage seiner Auferstehung, klopfte Otto an Krumnows Tür. Klara war baff. Das war in den fünfundzwanzig Jahren, die sie hier wohnten, noch nicht passiert: Otto klopfte an Krumnows Tür!

 

 

 

Berta Krumnow öffnete. "Dein Alter, Berta – isser da?"

 

 

 

Bertas Kopf verschwand, und Klara, die hinter der halbgeöffneten Stubentür stand und durch den Spalt spannte, hörte das schlurfende Geräusch von Krumnows Latschen. Gleich darauf stand er selbst, kleingewachsen, in fadenscheiniger Weste und schäbigen Hosen, in der Tür.

 

 

 

"Hast du Brennholz?" Ottos Frage überraschte ihn. Er brummte was.

 

 

 

"Fifty-fifty, wenn du mitmachst."

 

 

 

Klara erschrak: Otto hatte wie ein Gangster aus den amerikanischen Filmen, die sie aus noch aus der Systemzeit kannte, mit Krumnow gesprochen, immerhin, einem Nachbarn! Otto hatte was vor, vielleicht ging es sogar gegen ihre christliche Überzeugung! Ach, man wurde seine Sorgen nicht los. Klara rieb sich die Nase: Ihr Riecher jedenfalls verkündete Unheilvolles!

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Es war schon dunkel, als die beiden zurückkamen. Siggi saß am Küchentisch über seinen Schularbeiten. Otto scheuchte ihn hoch: "Fass gefälligst mit an!"

 

 

 

Vor der weit geöffneten Wohnungstür lag ein Baumstumpf, sandverklumpt, das Wurzelgeflecht spreizte sich,  das Ungetüm war nicht in den Flur hineinzubefördern.

 

 

 

"Die Säge, Siggi! Dalli, dalli!"

 

 

 

Klara war erschüttert: Noch kein Wort mit dem Sohn gesprochen, aber ihn anfahren wie einen Rollkutscher! Aber das, was sie nun erlebte, hatte sie nicht erwartet: Keine Sterbenssilbe verlor der Siggi. Er brachte die Säge.

 

 

 

Otto sägte. Endlich lag der Klotz vor dem Ofen in Klaras Stube.

 

 

 

"Ottochen, wo isser denn her? Der Baumstumpf? Doch nicht aus dem Tiergarten? Da wird ja allerhand geredet!"

 

 

 

"Wer viel fragt. Aber eine warme Stube willst du haben! Das nächste Mal kommt der Siggi mit, der hat wenigstens Mumm in den Knochen."

 

 

 

Siggi errötete vor Stolz, Nachbar Krumnow schwieg beleidigt. Klara fegte den Dreck zusammen. Dass der Otto, ihr Otto! so leichtsinnig war! Und wenn er verhaftet worden wäre? Der neue Magistrat hatte verboten, im Tiergarten und sonstwo die Bäume zu fällen. Aber Kohlenzuteilungen gab es auch nicht. Kalt würde es werden im Winter – bei dieser Verpflegung und den Pappefenstern.

 

 

 

Otto teilte den Baumstumpf gerecht. Krumnow bedankte sich und zog sein Brennholz durch die Tür, über den Flur, in seine Wohnung.

 

 

 

"Wenn wir dich nicht hätten, Ottochen", sagte Klara.

 

 

 

"Bin eben doch dein Ottochen, hm?" Otto ließ die Säge fallen und tätschelte Klara das Hinterteil.

 

 

 

"Nicht doch! Vor dem Kind! – Was ich noch sagen wollte: Die Jo bleibt doch bei uns? Erstmal, die Rita hat es nicht leicht mit dem Baby."

 

 

 

Otto wurde wieder normal. "Komm mir nicht so, Jule. Aber die Jule da oben soll sich gefälligst kümmern. Sich das Gör andrehen lassen und nach ihr die Sintflut!"

 

 

 

In dieser Nacht schlief Jo, die der Opa wie alles Frauenvolk der Familie Jule genannt hatte, wieder in Klaras Bett. Warm war Omas Rücken. Wärmer als der Ofen, der schon wieder kalt geworden war und von dessen Bullern Jo diese Nacht träumte.

 

 

5. Onkel Siggi

 

 

 

Siggi, so kam es Klara vor, entfernte sich immer mehr von ihr. Selten war er jetzt abends zu Hause. Wenn sie nur wüsste, was er trieb in der Nacht. Etwas sagte ihr, dass er in Schiebereien mit den Amerikanern verwickelt war. Aber er schwieg, der Dummkopf. Wenn bloß Otto davon nichts erfährt, der machte sich auch schon so seine Gedanken. Eines Tages würde er dahinterkommen. Und dann – Ogottegott, den Rabatz, der dann folgen würde, wollte sie sich nicht vorstellen. Wenn Siggi nachts nach Hause kam, wurde sie wach, aber sie verriet den Jungen nicht an den Vater.

 

 

 

Siggi war herzkrank, er hatte einen angeborenen Herzklappenfehler. Der hatte ihn auch vor der Hitlerjugend bewahrt, zu Ottos großer Genugtuung. Nicht auszudenken, wenn Siggi eines Tages in HJ-Uniform von der Schule nach Hause gekommen wäre. Wo Otto doch heimlich seinen Genossen die Treue hielt, auch noch in der Hitlerzeit. Jetzt hing das Ebert-Bild in der Stube wie damals, in den Weimarer Jahren. Es hatte den Krieg im Kohlenkeller überdauert.

 

 

 

Der Junge wird eben erwachsen, sagte sich Klara. Und wenn er am Küchentisch saß, über seine Schularbeiten gebeugt, kam er ihr manchmal ein bisschen fremd vor. Eines Tages, war ja nicht zu verhindern, würde er mit einer Freundin vor der Tür stehen. Und wenn er erst studierte, die Humboldt-Universität hatte den Lehrbetrieb schon aufgenommen oder war dabei, es zu tun, würde er nur noch selten zu Hause sein.

 

 

 

Siggi war das Nesthäkchen, ein Nachzügler. Nach dem Abort. Davon, dem Abort, wurde in der Familie nicht gesprochen. Die Sache war damals unmoralisch und unchristlich, aber nötig. Otto war schon das zweite Jahr arbeitslos gewesen, die Neussens lebten vom Stempelgeld und Ottos strammen Regiment über die Haushaltskasse. Wovon denn hätten sie noch ein Kind ernähren können? Rita kostete so schon genug. Der Arzt, als er von der Abtreibung erfuhr, hatte den Kopf geschüttelt. "Frau Neuss, niemand kann wissen, wie es kommt. Und wenn Ihr Mann einen Stammhalter will? Und Sie werden nicht mehr schwanger?" Klara hatte auf Gott vertraut, und dann hatten ihr Beten und das Kraut von der Kastnern dem Siggi zum Leben verholfen.

 

 

 

Siggi, wenn Otto unterwegs war, übernahm den Posten des Hausvaters. Er kujonierte die arme Jo. "Sag Onkel", forderte er mit strenger Miene. "Onkel Siegfried. Wird's bald?" Jo, die nicht glauben konnte, dass der da auf dem Schemel vor ihr, den alle nur Siggi riefen, ein Onkel sein konnte, stammelte eingeschüchtert: "Du siehst nicht aus wie ein Onkel, nicht wie Onkel Leo.

 

Der ist ein richtiger Onkel." Siggi richtete sich auf, schob den Pulloverärmel zurück und zeigte Jo seine Muskeln. "Genügt dir das? Na, bin ich ein Onkel – oder nicht?" Jo überlegte. "Bist du ein richtiger Onkel, wenn ich Onkel Siggi sage?"

 

 

 

So viel Frechheit von dem Rüpel musste sich Siggi nicht gefallen lassen. "Sag Onkel Siegfried! Oder es knallt!" Jo begann zu weinen. Unter Tränen flüsterte sie: "Onkel Siegfried." Plötzlich flammten ihre Augen auf. "Und ich sag doch nicht Onkel zu dir. Du bist Siggi!" Sie stampfte mit dem Fuß auf. "Du bist ein richtig Doofer – Siggi! Siggi!"

 

 

 

Klara mischte sich ein. "Siggi, schikanier mit der Kind nicht! Sonst gibt's was aus der Armenkasse! Und du, Jo, stampf nicht mit dem Fuß auf. Das machen nur die Soldaten. Und von die Bande hab ich die Nase voll, gestrichen!" Schmollend, weil Oma sie gerügt hatte, zog Jo sich auf den Kohlenkasten zurück.

 

 

 

Ein andermal kam Siggi in die Küche. Jo saß malend auf dem Kohlenkasten. "Zeig mal deine Hände!" Gehorsam streckte Jo die Hände aus. "Was ist denn das? Abgeknabberte Fingernägel? Und so was will mal eine Dame werden!"

 

 

 

Jo war eingeschnappt. "Ich will gar keine Dame werden. Ich will Malerin werden. Und dann male ich dich – so …" Schnell kritzelte sie ein Strichmännchen mit einer langen Nase. Und kühn fügte sie hinzu: "Aber erst, wenn ich größer bin als du. Siggi." Frechheit! Siggi verschlug es die Sprache.

 

 

 

"Mutter, hast du das gehört? Das lass ich mir nicht gefallen, nicht von der! Die hat ja noch nicht mal einen Vater!"

 

 

 

"Hm, und du hast einen Vater. Aber dafür kannst du nichts." Klara war aufgebracht, beinahe wäre ihr die Hand ausgerutscht. Da pfiff sie auf Siggis sechzehn Jahre. Jos Vater war tabu in der Familie.

 

 

 

"Jedes Kind hat einen Vater", sagte sie dann. "Und Jos Vater war ein reicher Mann. Genaugenommen hat sie sogar zwei Väter." Aber das letzte sagte sie so leise, dass Jo es nicht verstand.

 

 

 

Jo hatte mit offenem Mund zugehört. "Aber mein Pappi ist doch in Russland", sagte sie unsicher.

 

 

 

Klara schlug sich auf den Mund. Da hatte sie was Schönes angerichtet. Da denkt man, das Wurm versteht noch nichts, und in Wirklichkeit passte Jo auf wie ein Luchs. "Ja, Kindchen, in Russland, dein Pappi ist in Russland."

 

 

 

"Sein Foto steht auf Muttis Vertiko. Er ist Soldat! Er hat eine Mütze aus Eisen auf."

 

 

 

Siggi hielt sich den Bauch. "Mütze aus Eisen! Mensch, bist du doof! Stahlhelm, du Doofe, heißt das. Aber zu mir nicht Onkel sagen wollen!"

 

 

 

"Fang nicht schon wieder damit an – du Rotznase!" Klara machte sich unterm Wasserhahn zu schaffen. War wohl doch noch nicht so erwachsen, der Siggi. Seine dunklen Geschäfte waren nun wirklich kein Reifezeugnis. Aber den Onkel spielen! Manchmal im Bett, wenn Otto schon schnarchte, sprach sie ein kleines Gebet für den Sohn.

 

 

 

Eines Abends war es dann soweit, Klara hatte das Unglück kommen sehen: Ein deutscher Polizist stand vor der Tür. Siggi war in eine Razzia geraten. Schuldlos, aber nach Mitternacht, Sperrstunde. Wann die Amerikaner ihn wieder freigäben? Der Polizist blinzelte mitleidig:

 

Wer wisse das schon. Aber Siggi sei ja doch minderjährig, und bei Minderjährigen drücke an ein Auge zu, die Amerikaner seien doch zivilisierte Menschen, keine asiatischen Horden wie die da – der Polizist wies mit dem Kopf hinter sich. Er meinte die nächste Querstraße, die Boyenstraße, die im Russensektor lag.

 

 

 

Abends tobte Otto. "Der Bengel kriegt das Jackstück voll!" Klara hing sich an ihren Mann. "Ottochen, lass den Siggi in Frieden, der ist gestraft genug mit dem Kittchen! Er doch tut doch nur Gutes."

 

 

 

"Gutes! Gutes! Dass ich nicht lache! Nach Sibirien mit dem Hundsfott! Wir sind anständige Leute!"

 

"Aber dann wäre er doch bei den Russen, Ottochen." Klaras praktische Ader kam durch.

 

"Wo der Brockmann ist, Rita ihrer. – Überhaupt, was werden sie Siggi schon tun? Eines Tages, vielleicht morgen, ist er wieder zu Hause. Er muss doch zur Schule."

 

 

 

Otto beruhigte sich erst nach und nach. "Aber der soll mir nach Hause kommen! Um das Jackstück kommt mir der Kerl nicht rum!"

 

 

 

Siggi kam nach einem Monat zurück. Still, noch schmaler geworden. Jo, die ihm die Tür geöffnet hatte, erkannte ihn kaum wieder.

 

 

 

"Siggi, Onkel Siggi ist wieder da, Oma!" rief sie.

 

 

 

Und Siggi beugte sich zu ihr herab und gab ihr einen Kuss aufs Haar. "Warum nicht gleich so", sagte er friedlich.

 

 

6. Friedensweihnachten

 

 

 

Siggi erzählte später nicht viel von seiner Haft bei den Amerikanern, ein paar Sätze nur: "Hm, das Fressen ging" oder "Alles Schweine, die Amis" oder "Ihr wisst ja gar nicht, wie es war!" Klara, die nicht in ihn dringen wollte, schickte einen mütterlichen Blick zum Sohn und seufzte ergeben.

 

 

 

Otto nahm sich den Siggi in der Stube vor. Klara in der Küche hörte sein Poltern: "Wir sind ehrliche Arbeiter, merk dir das, du Hundesohn! Und wenn es dir nicht passt – kannst ja ausziehen! Du bist noch lange nicht erwachsen, leiste erst mal was! Dreckskerl!" Wochenlang ging das so.

 

 

 

Friedensweihnachten, das erste. Inmitten der Trümmer, der Hoffnungslosigkeit, der Stromsperren. Etwas wie Lichtschein bei den Neussens: Die Kinder, die Verwandtschaft, die sich wieder zusammenfand in der guten Stube. Heidelinde durfte aus dem Krankenhaus zu Besuch kommen, Otto kümmerte sich um den Ofen, Klara hatte die Notkerzen auf den Tisch gestellt, wahre Werte in dieser Zeit. Und Anni, Ottos Schwester, kam mit einem Tütchen Bohnenkaffee, den Muntermacher, den Klara so lange entbehrt hatte, dass sie sich den Geschmack schon gar nicht mehr vorstellen konnte. Annis Mann, Schwager Leo, der verkrachte Architekt, der im ersten Weltkrieg in einen Gasangriff geraten war und dabei den rechten Lungenflügel verloren hatte, nutzte seine dubiosen halbeingeschlafenen Beziehungen aus, und so war Anni an ein Tütchen Bohnenkaffee geraten – Mittel- und Höhepunkt des ersten Friedensweihnachtens in dem schlimmen Jahr 45. Wahrlich ein Lichtschein. Klara zauberte sogar etwas wie einen Kuchen aus Wasweißich auf den Weihnachtstisch.

 

 

 

Die Familie war um den Stubentisch versammelt: Gastgeber Otto und Ehefrau, Tochter Rita, zwei Enkel, nämlich Jo auf dem guten Sofa und Veronika auf Ritas Schoß, die trübselige Heidelinde, die in der Küche nichts taugte, sie hatte eine Untertasse fallengelassen, die unverheiratete Tutti, Ottos jüngere Schwester mit dem Damenbart und den schwarzen Zähnen vom Rauchen. Auch jetzt saß sie wieder da und rauchte eine Amizigarette und verqualmte Klara die Stube – woher sie das Geld nur hatte. Weiter der geschmeidige Leo mit der Fliege unterm Kinn und den gescheiten Wieselaugen mit seiner Anni, der Bohnenstange mit Brustkrebs, dann Gustav, Ottos Bruder, mit seiner Helma und dem missratetenen Nachwuchs Werner, einem hochaufgeschossenen Jüngling mit Krächzstimme, von dem gemunkelt wurde, er habe bei den Wehrwölfen mitgetan. Die Stube war zum Bersten gefüllt. Nur Siggi fehlte.

 

 

 

Was nicht fehlte, war der Weihnachtsbaum vor dem pappevernagelten Fenster, ein undefinierbarer Strunk, der einen himmlischen Duft ausströmte, zwar ohne Kerzen, aber immerhin. Klara hatte auf ihren Weihnachtsbaum bestanden, und Otto hatte sich vormittags murrend aufgemacht und dieses Prachtexemplar mitgebracht. Ein Glück nur, dass man den Strunk verheizen konnte.

 

 

 

Alles wartete. Otto verkündete, der Weihnachtsmann sei unterwegs, aber nur zu artigen Kindern. Und nun spannte alles darauf, ob er auch bei Neussens an die Stubentür klopfen würde. Jo, die auf dem Sofa zwischen Rita und Tante Tutti eingeklemmt war, erschrak:

 

Das hatte sie nicht gewusst, dass der Weihnachtsmann nur zu artigen Kindern kam. Irgendwas, man kann nie wissen, hatte sie bestimmt auf dem Kerbholz. Und Erwachsene, klar der Weihnachtsmann war auch ein Erwachsener, hatten immer was zu mäkeln an Kindern.

 

 

 

O Schreck, es donnerte! An die Stubentür! Die Erwachsenen grinsten und starrten auf Jo. Der Weihnachtsmann! Er war doch zu Jo gekommen! Jo ließ Tante Tuttis Arm los.

 

 

"Gerade sitzen!" Rita gab der Tochter einen Klaps auf den Rücken. Aber das spürte Jo gar nicht. Fasziniert starrte sie auf den Weihnachtsmann, den sie nur aus dem Märchenbuch kannte: mit weißem Bart und langem Mantel. Im Buch war er rot, der Weihnachtsmann aber, der sich umständlich durch die Stubentür schob, trug Klaras guten schwarzen Mantel und eine Schiebermütze auf dem Kopf. Auf dem Rücken schleppte er einen prallen Kohlensack und stapfte zum Stubentisch. Das fiel ihm nicht leicht, er stolperte, weil er Siggis Hausschuhe anhatte. Alles kicherte. Grimmig blickte der Weihnachtsmann auf die nun doch wieder erschrockene Jo.

 

 

 

"Bin ich hier richtig", fragte er mit Brummstimme, "bei Neuss? Bei der frechen Jo und der niedlichen kleinen Veronika?"

 

 

 

Jo nickte, sie wagte keinen Laut.

 

 

 

"Du da", sagte der Weihnachtsmann, "du bist doch die Jo. Kannst du auch ein Gedicht aufsagen?"

 

 

 

"Sitz grade, hab ich gesagt!" Rita gab der Tochter noch einen Klaps auf den Rücken.

 

 

 

"Lieber guter Weihnachtsmann", begann Jo. Ihr Herz klopfte, aber der Weihnachtsmann unterbrach sie: "Das kenn ich schon. Aber du kannst mir auch ein Lied singen, das von dem Tannenbaum."

 

 

 

Jo sang. "O Tannenbaum, wie grün …" Sie unterbrach sich: "Aber ich kann nur die erste Strophe, Oma hat keine Zeit gehabt, hat sie gesagt, mir auch noch die anderen zu lernen."

 

 

 

"Zu lehren, heißt es", sagte streng der Weihnachtsmann, "und mich. Merk dir das. Komm mal vor und bück dich. Jetzt zitterste, was? Warum habe ich denn die Rute mitgebracht? Und sag mal, warum ärgerst du immer deinen Onkel Siggi? Gehört sich das, du Rübe?"

 

 

 

Gehorsam bückte sich Jo. Der Weihnachtsmann schwang die Rute.

 

 

 

"Na, Weihnachtsmann", mischte sich Otto ein, "nu is aber jenuch! Du wirst sie hier doch nicht verdreschen wollen! Gib ihr das Geschenk, du hast doch keine Zeit, du musst doch noch zu den anderen Kindern."

 

 

 

Der Weihnachtsmann kramte schnaufend im Kohlensack und zog etwas hervor. Jo erstarrte: Eine Puppe! Eine richtige Puppe! Mit Haaren und Schlafaugen!

 

 

 

"Für mich?"

 

 

 

Der Weihnachtsmann brummte: "Haste nicht verdient. Aber ich werde mal nicht so sein, wo heute Weihnachten ist."

 

 

 

"Oma! Oma!" Jo war außer sich. "Eine Puppe! Und die kann sogar schlafen, mit ihren Augen! Ach, Weihnachtsmann!" Jo presste die Puppe an sich, schlang in ihrer Freude einen Arm um die Beine des Weihnachtsmannes und küsste Omas Mantel. Dem Weihnachtsmann war Jos Begeisterung peinlich, er wehrte ab. "Nu lass mal, nächstes Jahr ist wieder Weihnachten. Ich komm ja wieder, du Würstchen. Aber deine Schwester ist auch noch dran. Die war wenigstens artig."

 

 

 

Jetzt hatte Jo keine Angst mehr vor dem Weihnachtsmann. Plötzlich fiel ihr Blick auf Siggis Hausschuhe. "Weihnachtsmann", sagte sie, "wo sind denn deine Stiefel? Hast du die auch verschenkt?"

 

 

 

Der Weihnachtsmann hüstelte verlegen. Tante Tutti kreischte auf: "Nein, deine Tochter, Rita!"

 

 

 

"Die?" Der Weihnachtsmann sah an sich herunter, auf Siggis Hausschuhe. "Ach so, ja doch, meine Stiefel! Na, die habe ich draußen gelassen, damit Mutters Stube nicht dreckig wird. Draußen schneit es nämlich wie am Nordpol. Aber renn nicht gleich zum Fenster, bleib hier, Jo!" Der Weihnachtsmann bekam Jo am Ärmel zu fassen. "Ist doch Weihnachten. Und Weihnachten schneit es immer."

 

 

 

Jo nickte. "Darum hast du auch Schnee auf dem Kopf."

 

 

 

Leo feixte: "Besser als im Kopf!" Er lachte, die Frauen lachten mit.

 

 

 

Otto stand auf. "So, Weihnachtsmann, die Bescherung ist vorbei. Schwing hier keine langen Reden. Atschö, Weihnachtsmann!"

 

 

 

Brummend und die Rute schwenkend, verschwand der Weihnachtsmann im Flur, nicht ohne die Stubentür mit einem Knall hinter sich zuzuschlagen. Jo saß wie gebannt wieder auf dem Sofa und wartete auf das Zuknallen der Wohnungstür. Man konnte nie wissen – vielleicht kam der Weihnachtsmann wieder und gab ihr doch noch etwas mit der Rute.

 

 

 

"Na, Jo? Wie hat dir der Weihnachtsmann gefallen?" Tante Tutti lachte, dass Jo ihre schwarzen Zähne sah.

 

 

 

"Gut. Ein bisschen", sagte sie schüchtern, sie hörte die Küchentür klappen. "Kommt er jetzt wieder?"

 

 

 

"Ach was, der muss noch weiter. Aber nächstes Jahr kommt er wieder. Mal sehen, was er dir dann mitbringen kann."

 

 

 

Otto stand auf. "So, die Bescherung haben wir hinter uns, und jetzt geht es ans Feiern. Mutter, schenk ein! Und teil deinen Kuchen aus, mir läuft schon die Spucke im Mund zusammen! Dann wird es Zeit für die Rede. Gehört sich doch." Er schlug mit dem Löffel an die Kaffeetasse und fing sich einen empörten Blick seiner Klara ein.

 

 

 

Die Rede war lang. Reden, das war Otto gewohnt, noch von seinen Versammlungen, damals, in der SPD. Er redete und redete von der Jugendzeit und fand kein Ende, verhaspelte sich und nannte die Zuhörer Genossen. Klara wurde es zu bunt. "Auch wenn man das jetzt wieder sagen darf, Otto. Nun mach aber mal halblang, heute ist Weihnachten und nicht deine Parteiversammlung!"

 

 

 

Otto wurde fuchtig, er haute auf den Tisch. "Nur noch der Schluss, lass mich mal."

 

 

 

"So", feierlich blicke Otto an die Zimmerdecke. "Jetzt also haben wir Frieden, da leuchten Mutterns Kerzen auf'm Tisch."

 

 

 

"Die sind gleich runtergebrannt", wagte Heidelinde zu sagen.

 

 

 

"Ja, gleich runtergebrannt, und das ist ein gutes Zeichen, dass wir hier zusammensitzen, die ganze Familie, die noch übrig ist nach dem Kriege. Friede sei der Liese. Sie haben sie uns umgebracht, meine arme Schwester, weil sie verschüttet war, und der Egon ist auch gefallen, Gustav ist ausgebombt, aber seine Klappe funktioniert wie immer, die ist leider nicht mit ausgebombt, die anderen sind Gottweißwo, aber sie werden ja bald wieder in Berlin sein. Ja." Er holte tief Luft. "Na denn", sagte er plötzlich, "was soll ich noch lange drumrum reden: Fröhliche Weihnachten!".

 

 

 

Otto setzte sich. Leo deutete ein Klatschen an.

 

 

 

Minutenlang nichts als Schmatzen. "Wirklich gut, Klara. Das Rezept gibst du mir mal." Anni spreizte den kleinen Finger ab und griff zur Kaffeetasse. Genießerisch nahm sie einen Schluck und verdrehte die Augen.

 

 

 

"Hab ich aus dem Radio", sagte Klara. "Die geben jetzt Ratschläge, wie man aus nischt was macht. Nachher, in der Küche, Anni."

 

 

 

Otto erhob sich und schlug mit dem Löffel gegen die Kaffeetasse. "So. Und jetzt ist Herrenrunde! Das Weibsvolk hat gleich in der Küche zu tun. Oder wie, Klara?"

 

 

 

"Aber erst soll die Heidelinde uns ihr Lied singen, Ottochen. Sie wartet doch drauf. Ich hab's ihr versprochen."

 

 

 

"Also jut,  die Künstlerin Heidelinde Krüger singt uns eine Arie." Resigniert setzte sich Otto wieder.

 

 

 

Heidelinde begann zu singen, ihre Stimme zitterte: "Stille Nacht, heilige Nacht …" Sie sang alle Strophen, die Kerzen waren heruntergebrannt. Sie sah sich in der Runde um. "Und dass nie wieder Bomben fallen", sagte sie. Alles saß eine Minute in sich gekehrt in der Dunkelheit und schwieg.

 

 

 

"Gustav, jetzt ist deine Notkerze dran!" Helma, die bis jetzt kein einziges Wort gesprochen hatte, eine verhärmte Frau in den Fünfzigern, zündete die Kerze an. "Aber schön", sagte sie leise, "schön hat sie gesungen, die Heidelinde."

 

 

 

"Ja, schön traurig. Aber dass ihr das mit den – na, du weißt schon, passieren musste …"

 

 

Klara räumte ab, die Frauen gingen in die Küche. Jo blieb auf dem Sofa sitzen.

 

 

 

Leo räkelte sich. "Sag mal, Otto, erzähl doch mal was von den Russkis. Wie war das denn so in der Gefangenschaft?"

 

 

 

"Wie es war? Frag lieber nicht! Wasser aus'm Klo, wenn dir das was sagt. Unzivilisiert, da hat der Goebbels schon recht gehabt."

 

 

 

"Und sonst? Haben sie dir den roten Kommunismus beigebracht?"

 

 

 

"Na, da hätten sie sich bei mir aber anstrengen müssen! Ein paar sind umgefallen. Aber nicht bei mir! Ick oller Sozi. Schließlich."

 

 

 

"Otto, ich bin ja unpolitisch. Du bist der Fachmann für Politik. Musst du mir wirklich erklären." Leo rückte seine Fliege zurecht und schob sich näher zu Otto.

 

 

 

"Ach, lass mal, Leo. Andermal. Heute ist Weihnachten. Nischt vom Krieg."

 

 

 

Gustav mischte sich ein. "Aber die Liese, dass sie so … Du hast doch den Brief gekriegt, Otto. Lies den doch mal vor. Umjebracht haben sie die Liese. Und gesagt: Lungenentzündung. Hab ick allet jeahnt, aber sagen durfte man ja nischt. Und dabei, weeßte noch, Otto, war die so ein lustiges Haus. Wer konnte denn ahnen, dass sie mal verschüttet wird und nach Friedenau kommt. Die Heidelinde jetzt, die hat es besser."

 

 

 

"Komm mir nicht mit dem Pack, den Russen! Das Kerbholz ist für die zu kurz." Otto schnaufte. "Nicht heute abend, Gustav."

 

 

 

"Aber, waren doch die Nazischweine, nicht die Russen. Na, denn sage ick ebent jarnischt mehr." Gustav lehnte sich beleidigt auf dem Stuhl zurück und starrte in die Kerze, die schon wieder halb heruntergebrannt war.

 

 

 

"Na, Jo", Leo beugte sich über den Tisch, "wie hat dir denn Weihnachten gefallen?"

 

 

 

Jo drückte die Puppe an sich. "Prima, Onkel Leo. Ich hab gar keine Angst gehabt. Nur ein klitzekleines bisschen."

 

 

 

"Die Puppe, Otto, die ist von Egon. Hat er aus Polen mitgebracht, beim letzten Urlaub. - Zwanzig Jahre ist er geworden. Zwanzig." Gustav wischte sich eine Träne aus dem Auge. "Nun liegt er in Russland." Er schwieg. "Und gib auf die Puppe acht, Jo. Ist schließlich von E… Huch, beinahe hätte ich was gesagt. Vom Weihnachtsmann isse."

 

 

 

"Mach ich, Onkel Gustav. Aber jetzt muss sie schlafen. Ich sing ihr noch mal O Tannebaum vor, ganz leise. Ich habe auch schon einen Namen für sie. Aber den sag ich euch nicht."

 

 

 

Später, als sich alle verabschiedet hatten und die Stube wieder hergerichtet war, kam Siggi aus der Küche. "Na, da hat sich der Weihnachtsmann aber übernommen", sagte er und betrachtete kennerisch die Puppe. "Gleich eine Puppe! Der kennt dich bloß nicht, Jo. Warte mal aufs nächste Weihnachten, da gibt's was auf den Hintern, kannst du Gift drauf nehmen."

 

 

 

"Nächstes Weihnachten bin ich groß. Ich heul nicht."

 

 

 

"Wollen wir doch mal sehen!" Siggi gab ihr einen Klaps hintendrauf.

 

 

 

Jo fing an zu weinen. "Du bist gemein, du bist doch nicht der Weihnachtsmann! Der darf das, du nicht! Das sag ich Oma!"

 

 

 

Siggi grinste und brummte. Jo sah erstaunt zu ihm auf. Wie der Weihnachtsmann. Nachdenklich drückte Jo ihre Puppe an sich.

 

 

 

Wirklich, Siggi konnte brummen. Wie der Weihnachtsmann.

 

 

7. Der alte Krumnow

 

 

 

Es war Januar. Ein kalter Januar, nicht zu kalt, aber ein Januar des Jahres 46. Die Öfen kalt, draußen kalt. Auch die Herzen, ja auch sie waren kalt. Der alte Krumnow, das blinde Huhn, wie Otto sagte, wenn Krumnow es nicht hören konnte, ging einkaufen, allein, in der Müllerstraße. Mit dem Blindenstock stocherte er, seit die Bürgersteige voller Einschlaglöcher waren, hilflos auf dem durchlöcherten Straßenpflaster herum. Berta Krumnow, die ihren Mann gehen ließ, hatte kein schlechtes Gewissen. Es war ja nicht das erstemal, dass er ohne sie einkaufen ging, weil er als Blinder nicht anstehen musste und immer irgendwas mit nach Hause brachte. Und nach Hause hatte er immer gefunden.

 

 

 

Vor dem Bunker Ecke Kellerstraße, der nur noch als Warenager diente und bewacht war, traf er auf ein paar junge Leute, übermütig und in Schnapslaune. Dicht neben dem Bunker floss tief unten die Panke, ein Flüssen in gemauertem Kanal, von der Müllerstraße nur durch ein beschädigtes Gitter getrennt. Der alte Krumnow hatte sich verlaufen. Die Jugendlichen, den Alten mit der gelben Dreipunktbinde am Arm und dem Blindenstock in den Unkrautresten vor der Bunkerwand stochern sehen, und schon erwachte in ihnen eine Idee: Dem Alten einen Schabernack spielen, einen, der sich gewaschen hat, einen nassen Schabernack!

 

 

 

Krumnow begriff, dass es der Bunker war, vor dem er stand, er merkte, dass er hier nicht weiterkam. Er hörte die Stimmen der Jungen, fragte sie nach dem Weg.

 

 

 

"Da lang, Opa!", riefen sie. Krumnow folgte ihren Stimmen. Ein schmaler, abschüssiger Weg neben dem Bunker führte die Panke entlang. Auf den schickten sie den Blinden. Nach ein paar Schritten verfehlte Krumnow den Weg und fiel zwei Meter tief in die Panke. Er hörte sie noch johlen, während er versuchte, sich an der schmierigen Kanalwand hochzuziehen.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Berta Krumnow erschrak zu Tode, als sie ihr den Mann brachten, in nassen Kleidern. Er murmelte irgendwas, was sie nicht verstand, und fieberte. Klara empörte sich: "Nein, so was Schlechtes! Einem blinden Mann so etwas antun! Ins Zuchthaus sollte man die Rowdies stecken!"

 

 

 

Ins Zuchthaus steckte die Rowdies niemand. Als die Polizei eintraf, waren sie lange verschwunden. Worauf auch hätten sie warten sollen.

 

 

 

Dem alten Krumnow ging es schlecht. Nachts kam der Arzt, verordnete mit gerunzelter Stirn irgendwelche Medikamente. Berta und Klara saßen die ganze Nacht an seinem Bett.

 

 

Der Kranke phantasierte. Gegen Morgen kam er zu sich. Er wähnte nur Berta an seinem Bett. "Berta, mein Goldstück, mir tut der Kopf weh. Und ein bisschen schwindlig ist mir auch." Seine Stimme war klar. Klara kamen die Tränen. Berta nahm seine Hand und sprach leise auf ihn ein. So saß sie bis zum Nachmittag. Klara rannte nach dem Tee, der Kranke wollte trinken.

 

 

 

Am Nachmittag starb er. Eine Lungenentzündung in diesen Zeiten war ein Todesurteil.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Jo dachte nach: Menschen konnten sterben, das wusste sie schon. Gestern war Herr Krumnow noch am Leben, er lief durch den Flur, sie glaubte das Klappern des Stöckchens noch zu hören, und jetzt lag er im Bett, kalt, mit geschlossenen Augen.

 

 

 

Sie berührte seine Hände. "Ganz kalt", sagte sie erschrocken.

 

 

 

In der Küche malte sie ein Bild von Herrn Krumnow, wie er mit seinem Stöckchen durch die Kellerstraße ging. Klara erlaubte, dass sie es ihm auf die gefalteten Hände legte.

 

 

 

Ingo, der rothaarige Enkel, grinste: "So was soll ein Bild von meinem Opa sein, da lachen ja die Hühner! Außerdem, der konnte dich überhaupt nicht leiden. Er hat gesagt, du spinnst. Du und Malerin!"

 

 

 

Jo war beleidigt. Klara konnte ihre Hand im letzten Moment festhalten, sonst hätte Jo dem frechen Kerl eine geklebt, mitten ins Sommersprossengesicht.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Otto kümmerte sich um die Beerdigung. Zur Trauerfeier auf dem Friedhof Grenzstraße kamen ein paar Leute aus dem Haus mit. Die Kastnern war wie immer laut und temperamentvoll und unterhielt die Nachbarn, die vor sich hinhüstelten, mit Geschichten über Gottweißwas. Die Kastnern warf auch nicht drei Hände Sand in die Grube, sondern vier, Jo hatte heimlich mitgezählt, sie konnte schon bis acht zählen.  

 

 

 

Auf dem Heimweg stützte Klara die Berta, sie dachte schon an später: "Wenn dir die Decke auf den Kopf fällt, klopfst du bei uns. Versprich mir das Bertachen. Und heul nicht immerzu. Das macht dir den Mann auch nicht wieder lebendig."

 

 

 

Berta Krumnow versprach es. Doch später klopfte sie niemals an die Stubentür. Nur Ingo, der gemeine Kerl, wummerte im Vorbeigehen an die Tür, wenn er wusste, dass Otto nicht zu Hause war. Klara stürzte dann zur Tür und wollte dem armen verwaisten Jungen was Liebes sagen, aber sie war immer zu langsam. Mit einem Knall flog schon die Wohnungstür zu.

 

 

 

Klara schüttelte den Kopf. "Was soll nur aus dem Jungen werden? Der Vater in Gefangenschaft, die Mutter tot, und nun auch noch der Opa. Die Berta schafft es nicht allein. Wenn das man bloß kein schlechter Mensch wird."

 

 

 

Jo triumphierte. Ihr Opa lebte, sie würde kein schlechter Mensch werden.

 

 

8. Der Hundertjährige Kalender

 

 

 

Es war Winter, der Winter 46 zu 47. Die Erwachsenen sprachen von Holz und Kohlen und von Hungerrationen. Und vom Hundertjährigen Kalender. "Wenn der Sommer so schön war wie dieser, dann wird der Winter kalt. Sagt der Hundertjährige Kalender", meinte Großmutter. Jo staunte: Da haben die Leute hundert Jahre vorher gewusst, wie kalt der Winter in diesem Jahr werden würde. Und hundert Jahre, das war eine unendliche Zeit, für Jo mindestens wie Millionen Jahre, also etwas, was sie nicht mehr zählen konnte.

 

 

 

Siggi klärte sie auf: "Der Hundertjährige Kalender, was das ist? Also, hör gut zu." Er gab ihr einen Nasenstüber. "Mit dem Winter und dem Sommer ist es so – die Bauern, also wenn du weißt, was die Bauern sind, also die Bauern, die pflügen ihre Felder, dann streuen sie das Korn, man nennt das Saatgut, und dann wird alles zugeeggt. Bis dahin begriffen?"

 

 

 

Jo schüttelte den Kopf. "Was sind denn Bauern?"

 

 

 

"Also Bauern, wie soll ich dir das erklären – Bauern, das sind richtige Menschen. Wie wir. Die wohnen aber nicht in Berlin, sondern draußen, wo die Felder sind, in Oranienburg oder Wartenberg, also janz jottwedee, falls du dir vorstellen kannst, wie weit weg das ist vom Wedding. Da muss man mit der Eisenbahn hinfahren, zum Hamstern zum Beispiel, auf den Puffern, wenn man mitkommen will."

 

 

 

Jetzt verstand Jo: Die Bauern waren die Leute, zu denen alle fuhren, wenn sie mit vollen Rucksäcken wiederkamen. Sie nickte: "Ich weiß, Bauern sind Leute, die haben alles, Omas guten Mantel und mein Märchenbuch. Schon gut."

 

 

 

"Also, wenn nun alles zugeeggt ist, kommt der Regen, und dann wächst das Korn. – Hör zu, wenn ich dir was erkläre!" Wieder ein Nasenstüber, Jo schielte auf ihre Nase. Sie blutete aber noch nicht.

 

 

 

"Und wenn nun alles reif ist …"

 

 

 

"Was ist denn reif?"

 

 

 

"Herrgottchen, dir muss man was erklären! Na, das Korn, verflixt noch mal, stell dich doch nicht so an!"

 

 

 

"Das Korn? Wo kommt denn das her?"

 

 

 

"Also weeßte, ich geb's auf. Zu dusslig, was zu begreifen. Wenn du dich in der Schule genauso anstellst – na, dann gut Nacht!"

 

 

 

"Nein, nein, ich hab schon alles begriffen. Erzähl weiter, Onkel Siggi."

 

 

 

Siggi strahlte. Jo erkannte seine Onkelschaft an. "Also, das Korn ist reif, hab ich gesagt. Das wird dann geerntet, dann wird es zur Mühle gefahren, und da wird es gemahlen."

 

 

 

"Was Malen ist, weiß ich."

 

 

 

"Doch nicht deine Krakeleien, du dussliges Huhn! Hier geht es um Mehl, das ist … eben Mehl, wie Puder ist es …"

 

 

 

"Ich weiß auch, was Puder ist, Onkel Siggi. Mutti hat Puder. Der steht in der Stube, wo der Spiegel ist. Sie schmiert sich den ins Gesicht, und dann sieht sie ganz komisch aus. Oma sagt, die soll mal nicht die Männer so aufreizen. Was ist das: Männer aufreizen?"

 

 

 

"Also willst du nun wissen, wie das mit dem Hundertjährigen Kalender ist? Oder nicht?"

 

 

 

"Doch, Onkel Siggi. Erzähl ruhig weiter. Wie lange muss man da zählen?"

 

 

 

"Ach, du grüne Neune! Das hört man doch: bis hundert!"

 

 

 

"Wieviel ist das?"

 

 

 

"Na, sag ich doch: hundert Jahre."

 

 

 

"Ach so." Jo dachte nach. "Ach so meinst du das: Man zählt hundert Jahre, und dann weiß man, wie das Wetter im Winter wird?"

 

 

 

"Doch nicht zählen! Man kuckt in den Himmel und wie groß die Körner sind, und dann war der Sommer schön, und dann wird es ein kalter Winter – begriffen? Dir blöden Zicke erklär ich ja noch mal was! Dann bleibst du eben doof!"

 

 

 

"Du bist selber doof! Du kannst überhaupt nichts erklären. Ich will wissen, was der Hundertjährige Kalender ist, und du erzählst was von Bauern und Korn und Puder! Ich frag lieber Oma, die ist viel schlauer als du!"

 

 

 

Der Katzenkopf saß. "So was sagt man nicht zu seinem Onkel! Merk dir das."

 

 

 

"Immer haust du. Das sag ich Oma."

 

 

 

"Petze!"

 

 

 

Großmutter, als Jo nach dem Hundertjährigen Kalender fragte, überlegte ein Weilchen. "Hat dir der Siggi das nicht erklärt? – Ach Jott, überhaupt ist alles Quatsch, das mit dem Hundertjährigen Kalender. Muss man gar nicht wissen. Wichtig ist, ob es kalt ist und ob Schnee liegt. Und dass man was im Magen hat und der Ofen bullert. Und so ein Winter kommt jedes Jahr, darauf kann unsereiner Gift nehmen."

 

 

 

Und mit dieser Erklärung gab Jo sich zufrieden.

 

 

 

Der Winter war früh gekommen, schon vor Weihnachten schneite es, der Schnee lag bis in den Februar. Am Weddingplatz hing ein Thermometer an einem Mauerrest, die Leute standen drumherum und staunten: Bloß zwanzig Grad? Sie trampelten von einem Fuß auf den anderen, und mit eingezogenen Schultern gingen sie in ihre notdürftig oder gar nicht geheizten Stuben.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Die Mutter lud Jo zu einer Schlittenpartie ein. Schwester Veronika war kein kleines Baby mehr, sie konnte schon laufen, und Jo sollte sie auf dem Schlitten festhalten. Großmutter schimpfte: "Als ob Rita nicht allein gehen kann, die Veronika hat derweile doch auch noch Platz in meiner Stube! Bei diesem Wetter! Die Kinder erfrieren sich ja den Podex auf dem Schlitten! – Ach, die Rita! Die kommt nach Otto, immer der dicke Kopp. Und sowas will nun meine Tochter sein!"

 

 

 

Die Mutter zog die Kinder durch die verschneiten Straßen, sie stemmte sich gegen den Eiswind, der durch den dünnen Mantel pfiff. Der Weg zum Amt war weit. Veronika wimmerte, Jo umklammerte sie noch fester, bedeckte ihr Gesichtchen mit den Händen und beruhigte sie: "Heul nicht. Wir sind ja gleich da. – Mutti, renn mal ein bisschen, Veronika ist kalt! Und meine Füße sind auch schon kalt!"

 

 

 

Als sie in der Gerichtsstraße ankamen, wo das Amt seinen Sitz hatte, wimmerte Veronika schon nicht mehr. Erstarrt wie Eismännchen saßen Ritas Töchter auf dem Schlitten. Die Mutter putzte ihnen die Nasen und rieb ihre Hände: "Puste, puste, heile, heile Gänschen."

 

 

 

Den Weg nach Hause legte sie dann im Galopp zurück, die laut weinenden Töchter auf dem Schlitten.

 

 

 

Großmutter drehte entschlossen den Hahn am Ausguss auf und hielt die Hände der Kinder bis zum Ellbogen unter das kalte Wasser. Die Mädchen schrien vor Schmerz.

 

"Marsch, ins Bett! Ich mach die Wärmflasche heiß."

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Jo lag mit Großmutter im Bett. In der Stube war es dunkel, also war es Nacht. Jos rechtes Ohr piekte, dann zuckte ein Schmerz durch den ganzen Körper. Sie stöhnte. Großmutter drehte sich ihr zu. "Wo tut es denn weh? Das Ohr? Warte bis morgen früh, dann wickel ich dir ein Handtuch um den Kopf. Die Mutti denkt so weit, wie der Wannsee schön ist. Deiner Mutter, was sag ich, deiner Rabenmutter müsste man …"

 

 

 

Was man Jos Rabenmutter müsste, verriet sie nicht. Am nächsten Morgen fieberte Jo, und die Großmutter holte den Doktor. Jo weinte. "Mittelohrentzündung", sagte Doktor Holstein. "Hoffentlich kommt der Eiter."

 

 

 

Der Eiter kam. Jo musste im Bett bleiben, den Kopf dick umwickelt. Siggi hatte seinen Schal geopfert. "He, du Kaninchen" sagte er, "soll ich dir was vorlesen?" Jo nickte begeistert. "Aber laut, ich hör nichts mehr auf dem Ohr."

 

 

 

Siggi war einverstanden: "Dann nehme ich das andere Ohr. Willst du 'Hänsel und Gretel'?"

 

 

 

"Nein, nicht 'Hänsel und Gretel', lieber …" Jo überlegte. "Lies mir lieber was anderes vor, wo steht, warum es so kalt ist und mein Ohr so weh tut, weil der Sommer so schön war. Und lern mir bis hundert zählen. Bitte. Lieber Onkel Siggi."

 

 

 

"Dir werde ich noch mal was erklären wollen", sagte Siggi. "Na ja, ich will mal nicht so sein. Bis fünfzig, höchstens. Sonst bist du zu schlau für deinen Lehrer, und dann kannst du dir den Hintern einseifen."

 

 

 

Siggi hatte recht, Schlauheit zahlt sich nicht aus, wenn man dafür den Hintern einseifen muss.

 

 

 

Siggi begann zu zählen: Eins, zwei, drei, vier, fünf .. Als er bei dreißig angekommen war, schlief Jo schon und stöhnte leise im Schlaf.

 

 

9. Marzipan mit Paraplü

 

 

 

Der Sommer war nach Berlin gekommen. Und der Park am Nordhafen war kein Park mehr, dort gab es jetzt Gärten. Nicht solche Gärten, wie man sie sich in seinen Träumen vorstellt: mit Oleanderbüschen und Rosenstöcken, tiefgrünem Rasen und gepflegtem Eisengitter drumherum. Nein, die Gärten am Nordhafen gehörten den Mietern der Kellerstraße, die Stadt hatte ihnen den Park zur eigenen Bebauung zugewiesen. Um die Versorgungslage der Bevölkerung zu verbessern, wurde gesagt. Also gingen die Leute daran, ihre Versorgungslage zu verbessern.

 

 

 

Angebaut wurde in diesem Frühjahr, was sie an Saatgut bekamen: Zwiebeln, Mohrrüben, grüne Bohnen, Erbsen, Gurken. Und einer, dessen Parzelle am Wasser lag, zog sogar einen Kürbis bis zu Kinderkopfgröße auf, bis er ihm geklaut wurde. Irgendwer organisierte Johannisbeer- und Tomatensträucher, es blühte ringsum, es duftete nach Majoran und Tomatenpflanzen, und die Ranken der grünen Bohnen wollten in den Himmel wachsen. Die Zäune waren ein Abenteuer für sich: aus eisernen Wehrmachtsbettgestellen, aus Stangen zweifelhafter Herkunft und Waschkesseldeckeln, alles zusammengehalten mit Stacheldraht aus noch zweifelhafterer Herkunft. Es kam nicht auf Schönheit, sondern auf Abschreckung an.

 

 

 

Großvater hielt nachts Wache mit ein paar anderen alten Männern. Siggi, aufgefordert, dem Trupp eine gewisse Jugendlichkeit zu verleihen, lehnte ab: So weit käme es noch, er und nachts durch die Gärten schleichen und luchsen, ob da Gurken oder Mohrrüben geklaut würden! Wenn er Gemüse brauchte, besorgte er es sich, er wisse schon, wo. Sagen konnte Großvater dagegen nichts, er hatte nur ein schlagendes Argument, aber Großmutter warf sich dazwischen, und Siggi war fein raus aus dem Wacheschieben.

 

 

 

Großvaters Garten lag an der Straße. Jeder, der vorbeiging, konnte zusehen, wie die Tomatenpflanzen wuchsen, dass aus grünen Bommeln, wie Großmutter nannte, was Großvater da heranzog, nach und nach grüne Tomaten wurden, richtige Tomaten! Denn der Dünger war gut, er war sogar ausgezeichnet, er war der König des Düngers: Pferdeäpfel.

 

In der Kellerstraße wurden Pferdeäpfel gesammelt. Erwin Kluge, zu dessen Schmiede im zweiten Hinterhof jetzt wieder die dicken Brauereipferde kamen wie vor dem Krieg, hatte Hochkonjunktur: ein Eimer Pferdeäpfel für zwei Groschen. Großvater wollte die Groschen sparen, er schickte Jo und die Großmutter vors Tor auf die Straße, damit sie den Dünger aufsammelten, ehe es die Pferde zu Kluges Schmiede geschafft hatten.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Jo durfte auf die Straße, spielen gehen. Sie war fünf Jahre alt und erwachsen genug, es mit dem Abenteuer der Straße aufzunehmen. Viel zu spielen gab es nicht. Vor dem Haus lag eine eingezäunte Sandfläche, ein riesiger Buddelkasten. Jo freute sich auf die Buddelaussichten. Aber der Hauswirt hatte am Tor ein Schild angebracht: Betteln, Hausieren und das Spielen der Kinder auf dem Hof und im Vorgarten ist verboten! Der Hauswirt. Großmutter schimpfte, denn nun geriet ihr Jo tagsüber aus den Augen, und sie hatte es sich doch so schön gedacht mit dem Buddelkasten vor den Fenstern. Sogar Siggis Buddeleimer hatte sie Jo geschenkt, und Siggi tat großzügig: Kannst du haben, die paar lausigen Buddelformen. Bis er Kinder haben würde, da würden die sowieso nicht mehr buddeln. Jo bedankte sich höflich bei Siggi, vorsichtshalber. Er konnte sich schwere Strafen für Jo ausdenken, für gar nichts. Bei ihm musste Jo immer wachsam sein.

 

 

 

Aber es gab auch echte Abenteuerspielplätze: die Trümmer der Daimonfabrik zum Beispiel. Die hatten etwas Gespenstisches an sich. Nachts, sagten die Leute, schlichen dort undurchsichtige Gestalten herum: Kindermörder, Zigarettenschieber und ähnliches Gelichter. Großmutter hatte sogar eine weiße Frau dort gesehen, mitten am Tage sei sie die halbzerbombte Treppe hinaufgeschwebt. Oben habe sie teuflisch gelacht und gewinkt, dass Großmutter das Herz im Halse schlug.

 

 

 

Jo hatte keine Angst vor den Daimontrümmern. Rotkopf Ingo war ihr Beschützer geworden, er war schon acht und also fast ein Großer. Wolfgang und Peter, die Zwillinge aus dem Nebenhaus, die lungenkranke Ingrid, Marlies aus dem Seitenflügel und Michael, den sie Mieke nannten, weil er ein Angsthase war, fanden sich nach und nach ein.

 

 

 

Ingo und Wolfgang boxten, um herauszufinden, wer der Anführer sein sollte. Der Kampf endete unentschieden. Wolfgang war der Stärkere, aber seine Nase blutete. "Jüldet nich!", schrie er, als Ingo sich zum Anführer erklärte. Aber Ingo zeigte ihm die blutige Faust, und Wolfgang hatte begriffen.

 

 

 

Wolfgang, seine Mutter rief ihm Wölfchen, hatte Ideen. Eines Tages zuckelte ein Pferdefuhrwerk durch die Kellerstraße, vollbeladen mit Weißkohl. Den Kindern lief das Wasser im Munde zusammen: Weißkohl, essbar. Und so leicht zu klauen. Schon hing Wolfgang hinten an der Fuhre und warf die Kohlköpfe herunter. Die Spur der Kohlköpfe zog sich durch die ganze Kellerstraße. Der Kutscher wurde erst aufmerksam, als sich die Kinder schreiend um das Freigemüse balgten. Er fluchte, holte mit der Peitsche aus und schlug nach hinten, um Wolfgang herunterzupeitschen. Der ließ schnell das Fuhrwerk los, stürzte auf die Straße und rieb sich das Knie. Eine rote Strieme zog sich quer über sein Gesicht. "Macht nischt, Hauptsache, was zu fressen", sagte er und wischte sich die Tränen aus den Augen.

 

In den nächsten Tagen roch es in der Kellerstraße verdächtig nach Weißkohleintopf.

 

 

 

Ein andermal schlug Wolfgang ein Spiel vor: Räuber und Polente. Jo gehörte zu den Räubern, die Johannisbeeren in den Gärten klauen sollten. Und wenn ein Parzellenbesitzer jemanden erwischte, sagte Wolfgang mit Feuereifer, würde die Polente kommen: Wolfgang, Peter und Ingo würden die Räuber verkeilen, aber nur zum Spaß, und dann würde die Polente belohnt werden, und am Ende hätten alle was davon, nämlich mindestens eine nicht allzu kleine Schüssel Johannisbeeren.

 

 

 

Die Sache lief nicht ganz so wie geplant. Die Schüssel Johannisbeeren fiel aus. Aber Keile gab es, vom Parzellenbesitzer. "Verfluchte Lausebande, euch werde ich beibringen, meine Johannisbeeren zu klauen! Ihr gehört ins Jungvolk, da ziehen sie euch die Hammelbeine lang!" Jo weinte, Ingrid tröstete sie: "Wenn du Kloppe kriegst von deiner Oma, kommst du zu uns. Meine Mutter haut nicht."

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Der Sommer war ein Sommer war ein Sommer. Am Nordhafen, hinter den Gärten, gab es ein Fleckchen Gras. Eher kurzgetretene Unkräuter als Gras, aber grün. Zwei Meter davor floss der Spreekanal. Es ging steil hinab im Wasser: Zwei Schritt vom Ufer, und schon stand Jo das Wasser bis zum Hals. Aber es war herrlich, man konnte baden! Am schönsten aber war es auf dem Fleckchen Gras, wenn nach dem kalten Bad die Sonne auf die nackten Bäuche schien.

 

 

 

Ingo und Wolfgang stellten einen Unterschied fest: Die Mieken hatten nicht dieses Baumelding wie sie. Sogar Mieke baumelte es zwischen den Beinen. Die Jungs nahmen ihre Baumeldinger in die Hand und scheuchten die Mieken, die im Wasser bleiben mussten, bis es den Jungs zu langweilig wurde. "Ekelhaft!" Ingrid spuckte aus. "Alles alte Säue, die Jungs."

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Zwischen Park und Scharnhorststraße gab es ein Brückchen über die Panke, die an dieser Stelle in das Auffangbecken des Nordhafens floss. Wer darauf kam, wusste später niemand mehr, aber schnell entschieden sich alle für eine Mutprobe: Dicht am Rand des Wasserfalls langbalancieren, mit geschlossenen Augen. Hier war der Untergrund von Wasserpflanzen überwuchert, die sich in die schnelle Strömung schmiegten. Glitschig war er, steinig, nichts für nackte Fußsohlen.

 

 

 

Ingo hatte Bedenken. "Und wenn nun doch einer reinfällt? Ha?" Wolfgang winkte ab:

 

"Dann rufen wir die Feuerwehr, die macht das schon."

 

 

 

Jo, als sie dran war, schummelte: Sie blinzelte. Die anderen am Ufer konnten es nicht sehen, und sie kam nass, aber glücklich gegenüber an Land. Alle schafften es, alle blinzelten. Nur einer nicht: Peter. Er rutschte auf dem glitschigen Untergrund aus, die Strömung zog ihn herunter, sein Kopf tauchte im Strudel des Wassers auf, die Kinder schrien. Niemand konnte schwimmen.

 

 

 

"Beim drittenmal Hochkommen ersäuft er!" Wolfgang lief am Ufer hin und her und gab verzweifelt schreiend Ratschläge. Peter, wenn er auftauchte, schrie gurgelnd. Aber die Panke hatte kein Erbarmen, sie floss wie jeden Tag, wie jede Minute. Peter tauchte nicht mehr auf. Die Feuerwehr zog ihn am nächsten Tag aus dem Nordhafen, weit entfernt vom Wasserfall.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Im Herbst durfte die lungenkranke Ingrid nicht mehr auf die Straße, sie hustete zuviel. Vom Fenster blickte sie traurig auf die Straße, und eines Tages blieb das Fenster leer. Ein Sargwagen fuhr vors Haus, die Kinder standen dabei, alle weinten, und dann fuhr der schwarze Wagen davon mit der toten Ingrid im Sarg. Ein paar Erwachsene gingen zu Fuß zum Friedhof. Kinder wollte Ingrids Mutter nicht dabei haben.

 

 

 

Jo wusste, was auf dem Friedhof geschehen würde: Der Pastor würde eine Rede halten, und dann würden alle weinen, dann warfen alle eine drei Handvoll Erde auf den Sarg, und jemand würde "Ave Maria" singen. Die Kinder hörten gespannt zu, als Jo davon erzählte, wie der alte Krumnow begraben wurde. Nur Wolfgang wusste es besser, ihn hatte die Mutter zum Friedhof mitgenommen: "Das mit 'Ave Maria' stimmt nicht! Bei Peter haben sie gar keine Musik gespielt." Jo überlegte: "Vielleicht, weil er ein Junge war?"

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Siggi drohte: "Nächstes Jahr kommst du in die Schule. Na, du wirst dich umsehen. Seif dir mal jetzt schon den Hintern ein."

 

 

 

Jo verstand nicht: "Seife auf den Hintern, warum denn?"

 

 

 

"Na, wenn dich der Lehrer verkloppt, du Transuse!"

 

 

 

Jetzt hatte Jo verstanden.

 

 

 

Jo verstand jetzt überhaupt so manches besser als vor einem Jahr. Die Großmutter sagte: "Mit den Tomaten, das ist ein Elend. Gerade will ich sie ernten – da waren die Verbrecher schon dagewesen! Nur noch die Bommeln waren dran! Eine Gemeinheit ist das, am hellerlichten Tag! Erst sammeln wir dauernd Pferdeäpfel und der Opa mit seinen Nachtwachen – die ganze Arbeit umsonst!" Jo streichelte sie. "Lass mal, wein doch nicht. Dann gehen wir eben auf dem Schwarzmarkt Tomaten kaufen."

 

 

 

Großmutter lachte unter Tränen. "Du naseweise Jöre wirst mir alten Frau schon Ratschläge geben! Wie, wenn das alles so einfach wäre. Wo doch alles in diesem verfluchten Leben so doppeltgemoppelt ist. Dann muss Opa mit deiner Mutter eben wieder hamstern fahren. Aber fremde Tomaten sind auch nicht das Wahre, und wir haben kaum noch Bettzeug zum Hamstern. Selbstgezogene Tomaten, die schmecken – reine Friedensware! – Ach so, du weißt nicht, was Friedensware ist? Weißt du, wie damals die Tomaten geschmeckt haben, wie", sie verdrehte die Augen und tat, als ob sie Friedensware aß, "die schmecken wie Marzipan mit Paraplü!"

 

 

 

"Ach so", sagte Jo altklug.

 

 

10. Alles ändert sich

 

 

 

Das Frühjahr kündigte sich an. Nach dem langen, schrecklichen Winter endlich wieder Wärme und Sonne.

 

 

 

Die Berliner atmeten auf. Die Zeitungen schrieben, dass man noch immer in den Wohnungen Tote fand, Erforene, Verhungerte. In diesem Winter starben viele Menschen, die den Krieg überstanden hatten, nicht aber die die Kälte und den Hunger.

 

 

 

Im April musste Jo zur Einschulungsuntersuchung, zum Amtsarzt. Der entpuppte sich als eine junge freundliche Frau. Sie klopfte auf Jos Brustkasten herum, lauschte ins Hörrohr. Jo atmete wie eine Lokomotive, stoßweise, aus dem Bauch.

 

 

 

"War die Lunge schon immer so schwach, Frau Brockmann? Ich schick sie mal zum Röntgen. Das gefällt mir gar nicht. Ganz und gar nicht."

 

 

 

"Wird sie denn eingeschult oder nicht?"

 

 

 

"Ich schreibe sie einschulungsfähig, abhängig vom Röntenergebnis."

 

 

 

Ein paar Tage später das Röntgen. Jo war begeistert: Die Ärztin konnte in sie hineinsehen, ohne dass es wehtat, puppenleicht, nur ein Sekündchen stillstehen und die Luft anhalten. Und innen waren die Menschen ganz weiß, es war wunderbar! Jo wollte ihre Röntgenaufnahme gar nicht aus der Hand geben.

 

 

 

Aber die Ärztin machte ein besorgtes Gesicht. "Frau Borkmann, ich muss Ihnen leider sagen, dass es dieses Jahr wohl noch nichts mit der Schule für Ihre Tochter wird. Ihre Hylusdrüse ist angegriffen. Noch keine ansteckende Sache, aber sie braucht eine Kur in reiner Luft, eine Lungenkur. Am besten, wir machen es so: Sie wird eingeschult, aber sowie ein Platz frei ist, geht sie zur Kur. Die erste Klasse muss sie dann wahrscheinlich noch einmal machen."

 

 

 

Großmutter wusste, warum Jos Hylusdrüse angegriffen war: Der Krieg war schuld, die vielen Tage und Nächte im Bunker und das schlechte Essen. "Dieser verfluchte Krieg!", sagte sie. "Dieser verdammte Hitler!"

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Der Sommer war ein bisschen verregnet. Trotzdem, in den Gärten am Nordhafen reifte es, und wenn die Parzellenbesitzer schlau waren, konnten sie sogar selbst ernten. Dieses Jahr hatte die Großmutter mehr Glück mit den Tomaten. Mohrrüben gab es und richtige Kartoffeln auf dem Teller. Auch Großvaters Hamsterfahrten mit der Mutter und Siggi erweiterten den Speiseplan: Händevoll Stachelbeeren. Jo kostete eine: Süß war sie, halb zerquetscht, voller kleiner Kerne, die man im Mund behalten konnte, bis man sie aus Versehen herunterschluckte. "So was Schönes, Oma. Müsste es immer geben", sagte Jo.

 

 

 

Wolfgang heckte schon wieder einen Plan aus. Die Trauben der Holunderbüsche, die am Ufer des Spreekanals wuchsen, hingen schwer und blau übers Wasser. Weit vorbeugen musste man sich, um sie abzureißen. Das war die Arbeit der Jungen. Die Mädchen warteten, bis die Jungen satt waren von der Holunderernte, ehe auch sie zu den schweren Dolden greifen durften. Jo stopfte alles in sich hinein, Holunder schmeckte nicht so gut wie Stachelbeeren, aber saftig war er. Hände, Kleid, Gesicht und sogar die Beine hatten von dem Saft abbekommen.

 

 

 

Großmutter schlug die Hände über dem Kopf zusammen. "Kind, doch nicht Holunder! Der muss doch gekocht werden! Das ist das reinste Gift!"

 

 

 

Es war zu spät. Großmutter konnte gar nicht so schnell den Eimer unter dem Küchentisch hervorholen, wie sich der Holunder Luft verschaffte. Elend war Jo zumute, ihr war schlecht, kaum hielt sie sich auf den Beinen.

 

 

 

Wieder kam Doktor Holstein, verschrieb ein paar Tropfen. Ein Trost, dass es Jo nicht allein so erging, alle Kinder hatten reichlich von den Holunder gegessen. So hatte die Kellerstraße ein paar Tage lang Ruhe vor den Rabauken. Wie ausgestorben lag die Kellerstraße in der Sonne.

 

 

 

"Nie wieder Holunder!" Wolfgang hob zum Schwur zwei Finger in die Luft. "Ich schwöre! Dann schon lieber Keile. Ich schlag vor, wir machen eine Johannisbeertour." Und was Wolfgang vorschlug, wurde getan. Sogar Ingo als Anführer fügte sich.

 

 

 

Niemand erwischte sie bei den Johannisbeeren, aber es gab trotzdem Keile. Die Jungen boxten darum, ob weiße oder rote Johannisbeeren nahrhafter waren. Am Ende einigten sie sich auf Johannisbeeren im allgemeinen, ob weiß oder rot, weil sie keine Kraft mehr in den Fäusten hatten. Nur der stille Michael-Mieke, der sich an der Keilerei nicht beteiligt hatte, wusste es genau: Johannisbeeren sind nicht nahrhaft, sondern sie haben Vi-ta-mi-ne.

 

 

 

Ingo blieb skeptisch. "Was soll denn das sein, deine Vitamine? Kann man Johannisbeeren essen oder nicht? Na also, dann sind sie auch nahrhaft, du Spielverderber!"

 

 

 

Wolfgang mischte sich ein. "Mieke hat recht. Holunder kann man auch essen. Aber er ist nicht nahrhaft, sondern zum Kotzen."

 

 

 

"Aber er hat auch Vitamine!" Mieke strahlte, Wolfgang hielt zu ihm! Von diesem Tage an waren er und Wolfgang dicke Freunde, gegen Ingo.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Der Sommer ging vorüber, und mit sonnigen, nicht mehr allzu warmen Nachmittagen kündigte sich der Herbst an. Jo war froh, dass sie zur Schule durfte, aber auch traurig, denn da war ja noch die angedrohte Kur. Sie wollte nicht zur Kur fahren, sie wollte in die Schule gehen!

 

 

 

Von der Einschulung am 1. September machte niemand etwas groß her. Siggis alte Schulmappe, seine Schiefertafel und ein paar neugekaufte Griffel, das war alles. Eine Schultüte gab es nicht. Großmutter aber hatte einen Kuchen gebacken, und Jo durfte sich so viele Kuchenstücke nehmen, wie sie verdrücken konnte. Nach dem dritten Stück aber gab sie schon auf. Es würgte sie, ihr Körper hatte sich schon zu sehr an magere Kost gewöhnt.

 

 

 

Jo war gerade drei Wochen in der Schule, als es mit der Kur klappte. Großmutter war vor Freude außer sich: "An die Nordsee, Kind! An die Nordsee! Wo es die vielen Muscheln gibt. Die rauschen, wie das Meer rauschen sie! Wirst schon sehen. Und das Wasser! Überall, bis an den Horizont nur Wasser. Und der Zuckersand erst, weiß wie Schnee. Ein halbes Jahr! Kind, hast du es schön."

 

 

 

Großmutter, Siggi, der den Koffer trug, und die Mutter mit Veronika brachten sie zur Bahn. Siggi stürmte ins Abteil. "Belegt! Ein Fensterbett für meine Nichte! Damit du raussehen kannst, Jo, wenn der Zug fährt. Mensch, du hast es wirklich prima! Wie die Prinzessin auf der Erbse."

 

 

 

Als der Zug anfuhr und alle winkten und Großmutter sich die Tränen abwischte, war Jo nicht traurig, nur ein bisschen stiller als sonst. Alles war anders, alles war fremd, alles war ein Abenteuer.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Es war ein Lazarettzug. Rechts und links Betten, drei Etagen hoch, in der Mitte ein schmaler Gang. Krankenschwestern liefen hin und her. Jo lag im Bett wie alle, der Zug fuhr in die Nacht, erst langsam, dann immer schneller. Unter ihr ratterten die Räder, und plötzlich war ihr, als ob sie davonschwebe, höher, immer höher, bis in den Himmel, und weiße Wölkchen deckten sie zu.

 

 

 

Der Zug hielt. Jo erschrak: Hier? Hier ist die Nordsee? Es war ein Bahnhof. "Hamburg, Hamburg, Endstation!" Die Krankenschwestern trieben die Kinder an. "Nehmt eure Koffer und stellt euch in Zweierreihen auf!"

 

 

 

Der Koffer war schwer, viel zu schwer für Jo. Es ging durch morgendliche Straßen, Kopfsteinpflaster. Jo nahm immer zwei Steine. Beiderseits kleine Häuser, ein viel zu langer Weg. Die Kinder stöhnten, einige weinten, die Krankenschwestern schimpften. "Und Ruhe! Wir schwatzen nicht! Die Leute schlafen noch!"

 

 

 

Und dann sahen sie es – das Meer.

 

 

 

Es war riesengroß, Wasser, nichts als Wasser, es war grün, es schäumte, wenn es ans Ufer schlug. Und mitten in das Meer hinein führte ein Steg. Jo holte tief Luft: Wie gut es hier roch! Nach dem schwarzen Zeug, das am Ufer lag, nach Kieselsteinen, nach kleinen Muscheln, die man in die Tasche stecken konnte, nach dem Wasser, den schäumenden Wellen. Es roch und roch.

 

 

 

Jo hielt das Gesicht in den Wind. Das Meer. Der Wind zerzauste ihr die Zöpfchen. Man musste schreien, wenn man den anderen etwas sagen wollte, aber es war schön, es war unbändig schön. Und draußen auf dem Meer, am Ende des Stegs, legte ein weißes Schiff an. Mit dem sollten sie fahren, zu einer Insel, sie hieß Föhr. Was eine Insel war, wusste Jo nicht, aber schon, dass man dorthin nur mit einem Schiff kommen konnte, war überwältigend. Föhr, du mein Traumland, ich komme!

 

 

11. Am Meer

 

 

 

Das Lungensanatorium war ein schneeweißes Haus. Es stand am Meer, sehr nah, fast mit den Füßen in der Nordseebrandung, in einem Fischerort namens Wiek, und Möwen kreischten vor den Fenstern. Es hatte zwei Etagen: Oben standen die Betten der Jungen, unten die der Mädchen. Die Schwestern hatten sich zum Empfang der Kinder im Flur aufgereiht, angetan mit blauen Kitteln, einem Häubchen im Haar und einem Knüppel in der Hand. Den Knüppel bemerkte Jo aber erst, als eine der Schwestern damit an ihre Schenkel schlug.

 

 

 

Der Raum, in den man die Mädchen führte, war riesengroß. Jo begann die Betten zu zählen. Ein Glück, dass Siggi mit ihr geübt hatte, bis hundert zu zählen. Es waren mehr als fünfzig Betten. Sie stürzte zu einem Bett am Fenster. Sofort kam eine Schwester herbei und zerrte sie herunter vom Bett. "Die Belegung ist festgelegt! Am Fenster schlafen die großen Mädchen!"

 

 

 

Jos Bett stand in der Mitte des Riesenraumes, weitab vom Fenster, hinter dem das Meer rauschte. Jo blickte sich um: Nichts als Betten, keine Schränke mit Spielzeug, keine Tische, keine Stühle – nur Betten.

 

 

 

"Wo kommst du her?" Ein Mädchen war an Jos Bett getreten, es schien jünger als sie zu sein. Es hatte ein fadenscheiniges Kleidchen an, und die Schuhe, ausgedient, aber tiefschwarz geputzte Schnürschuhe, waren mit Bindfaden zusammengehalten. Jo musterte das Mädchen:

 

Stupsnase, Sommersprossen, blonde Stoppelhaare, mager wie ein Wichtelmännchen, aber gescheite Augen. "Aus Berlin", sagte Jo. "Und du? Und wie heißt du?"

 

 

 

Das Mädchen war ihr sofort sympathisch, zart, wie es war. So ganz anders als die Kinder aus der Kellerstraße. "Marie-Luise", sagte das Mädchen, "aus Köln. Aber eigentlich aus Breslau. Wir mussten flüchten. Aber meine Mami ist tot. Nur noch mein Bruder ist da. Und mein Onkel."

 

 

 

"Ich wohne bei meiner Oma. Ich habe eine Schwester, sie heißt Veronika. Aber sie ist noch klein, spielen kann man noch nicht mit ihr. Ich bin Jo. – Bist du auch seekrank geworden?"

 

 

 

Marie-Luise schüttelte den Kopf. "Ein bisschen", sagte sie, als Jo sie zweifelnd ansah, "aber nur Spucke."

 

 

 

"Und warum bist du geflüchtet?"

 

 

 

"Weil … ich weiß nicht. Es war ganz kalt, meine Füße taten so weh. Und dann wurde geschossen, und dann war meine Mami tot, alle Leute haben geschrien. Aber jetzt wohnen wir in Köln, bei meinem Onkel, im Luftschutzkeller. Manchmal haben wir gar nichts zu essen."

 

Sie begann zu weinen.

 

 

 

Jo streichelte sie. "Heul doch nicht." Sie konnte sich fremdes Elend noch nicht wirklich vorstellen, sie wusste nur: Marie-Luise hatte Kummer. Und wer Kummer hat, braucht leise Worte, den durfte man nicht anschreien: "Du doofe Heulsuse!" Viel zu gut wusste sie, was Kummer war. Sie brauchte nur an Siggi zu denken, Siggi, den Bescheuerten.

 

 

 

Jo und Marie-Luise hatten sich bekannt gemacht. Marie-Luise, die dann von allen Mariechen genannt wurde, schlief im Bett neben Jo.

 

 

 

Abends der Höhepunkt des Tages: das Abendessen. In einem großen Raum standen lange, weißgescheuerte Tische, Holzbänke davor, und auf den Holzbänken saßen dicht an dicht Kinder mit hungrigen Augen.

 

 

 

Die Schwestern stellten große Teller auf die Tische, Berge von Marmeladenstullen. Marmeladeenstullen, kaum jemand wusste, wie Marmelade schmeckte. Alle griffen in die Stullenberge hinein, die Schwestern schrien: "Einer nach dem anderen!" Aber niemand scherte sich um das Geschrei, nicht an diesem Abend.

 

 

 

Dann das Waschen im Bad. In einer Ecke gab es Duschen. Duschen, so ein Wort hatte sie noch nie gehört. Jo bestaunte sie. Die größeren Mädchen erklärten, wie eine Dusche funktioniert: Hahn aufdrehen, und von oben, aus dem Sieb, kam das Wasser. Das musste Jo probieren! Mit einem Aufschrei fuhr sie zurück: Eiskalt das Wasser! Begossen wie ein Pudel stand sie da. Eine Schwester kam hinzu. Schadenfroh besah sie sich die durchnässte Jo: "Na, deine kalte Dusche hast du ja jetzt. Strafe genug." Ein bisschen unzufrieden schlug sie sich mit dem arbeitslosen Knüppel gegen die Schaftstiefel.

 

 

 

Und nach all dem Neuen dann die erste Nacht in dem wunderschönen breiten Bett. Jo sprang mit einem Juchzer hinein und zog das Bettdeck über den Kopf. Mariechen das sehen und es ihr nachmachen – alles eins. Plötzlich sprangen alle Mädchen in ihre Betten und zogen sich die Bettdecken über die Köpfe. Schreiend kam eine Schwester herein. "Da hört sich doch alles auf! Sind wir hier bei den Hottentotten?!" Sie schwang den Knüppel über dem Kopf. "Wer hat damit angefangen? Na, wird es bald? Ich will den Namen hören!" Sie wartete ein kleines Weilchen. "Unter euch ist ein Feigling, und alle müssen für ihn büßen, der ganze Schlafsaal. Morgen früh Essensentzug!"

 

 

 

Die Kinder lagen erstarrt unter ihren Bettdecken. Jo meldete sich, niemand sollte sie Feigling nennen. "Ich", sagte sie kleinlaut. Die Schwester trat an ihr Bett. "Wie heißt du?"

 

 

 

"Johanna Borkmann."

 

 

 

"Borkmann also." Es klang, als sagte sie: Wenn eine schon Johanna Borkmann heißt. "Lass dir das eine Warnung sein. Ihr alle, hört zu! Das nächste Mal setzt es was!"

 

 

 

Das Meer rauschte, die Wellen schlugen an den Strand, und die Mädchen lagen in den Betten, manche weinten leise. Jo hörte ein neues Wort: Heimweh. Sie würde nicht weinen, und wenn sie die Großmutter noch so sehr vermisste! Bis auf das Weinen und den Wellenschlag vor dem Fenster war es mucksmäuschenstill im Schlafsaal.

 

 

 

"Wer kennt ein Abendlied?" Eines der großen Mädchen hatte gefragt. Alle riefen: "Ich, ich, ich!"

 

 

 

"Also gut, jeder ist mal dran, die Reihen durch", sagte das große Mädchen, "ich fang an."

 

 

 

Jo kannte kein Abendlied. Aber sie machte sich deshalb keine Sorgen. Bis sie drankäme, würde sie alle Abendlieder der Welt kennen.

 

 

 

Das Mädchen sang: "Weißt du, wieviel Sternlein stehen …" Jo war begeistert. Das Mädchen sang schön wie eine Sängerin aus dem Radio.

 

 

 

Der Gesang und der Wellenschlag machten sie müde, und als Mariechen ihr gute Nacht zuflüsterte, war Jo schon eingeschlafen.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Am Morgen, die Novembersonne schien schon den Schlafraum, weinte Mariechen. "Mariechen! Was hast du denn?" Jo setzte sich auf Mariechens Bett.

 

 

 

Mariechen schlug das Bettdeck zurück, ein gelber Fleck in der Mitte des Bettlakens. "Au weia", sagte Jo, sie dachte an die Schwestern mit den Knüppeln.

 

 

 

Eine Schwester kam. Sie besah sich das Unglück und riss Mariechen vom Bett herunter. "So ein Schwein! So eine Mistsau! Wir haben eine Bettnässerin! Einpinkeln, das fehlte noch!" Missetäterin Mariechen stand barfuß und mit gesenktem Kopf neben dem Bett, gewärtig,

 

einen Schlag mit dem Knüppel abzubekommen. Aber die Schwester hatte keinen Knüppel dabei, sie schlug ihr mit der Hand ins Gesicht. "Wie alt bist du? Sechs? Na, das hätte dir deine Mutter aber beibringen knnen! Wo bist du denn her?"

 

 

 

"Aus Breslau … nein, Köln", sagte Mariechen leise. Sie würgte ihre Tränen herunter.

 

 

 

"Woher? Lauter!"

 

 

 

"Aus Köln!" Jetzt schrie Mariechen.

 

 

 

"Schrei mich nicht so an, du Luder!" Die Schwester war empört, so viel Frechheit war ihr noch nicht untergekommen. Ein paar andere Schwestern standen in der Tür, die Knüppel in Händen, bereit, jeden Aufruhr im Schlafraum zu vereiteln.

 

 

 

Aber die Vorsicht war unnötig. Alle Mädchen standen wie eine Eins neben ihren Betten, erstarrt, aber nicht vor Kälte.

 

 

 

In den folgenden Wochen musste Mariechen jeden Morgen nach dem Frühstück zur Abreibung antreten: drei Schläge mit dem Knüppel auf den nackten Hintern. Jede Nacht war ihr Bett nass. Die Mädchen riefen: "Bettnässerin! Bettnässer stinken!"

 

 

 

Mariechen sprach nur noch leise, fast flüsternd, mit weinerlicher Stimme. Jo war ihre Freundin geworden. "Ich beschütze dich", sagte sie. "Die anderen werden schon sehen, was passiert, wenn sie dich ärgern!" Mariechen zog die Nase hoch, sie lächelte glücklich.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Jeden dritten Vormittag Untersuchung. Es war ein freundlicher Doktor. "Hast du Angst vor Spritzen?"', fragte er Jo. Sie schüttelte den Kopf. "Und Lebertran?"

 

 

 

Was Lebertran war, wusste Jo am ersten Tag nicht. Sie lernte ihn aber kennen. Und verabscheuen. Jeden Morgen nach dem Frühstück Anstellen zum Lebertranempfang, einen ganzen Becher voll, zu trinken unter Aufsicht einer Schwester, mittags und abends. Ausreden wurden nicht geduldet. Weigerte sich ein Mädchen, das ölige gelbe Zeug zu trinken, drohte die Schwester mit dem Knüppel oder schlug mit der Hand zu.

 

 

 

Jo hielt sich die Nase zu, schluckte ihren Lebertran in einem Zug herunter. "Tapferes deutsches Mädchen", sagten die Schwestern. "Borkmann macht es richtig: Nase zuhalten und runter damit!"

 

 

 

Nach der Arztvisite einmal in der Woche Schreibstunde. Außer ihrem Namen konnte sie schon zwei Wörter schreiben: Mama und Mimi. Wie man ihren Namen schrieb, hatte ihr Siggi beigebracht: ein Haken, das war das Jott, eine Kuller, das war das O. Sie diktierte der Schwester:

 

 

 

"Liebe Oma, lieber Opa, lieber Siggi, liebe Mutti, liebe Veronika, lieber Ingo, liebe Frau Krumnow! Mir geht es gut, es gibt Marmeladenstullen und Grütze zu Mittag. Die Schwestern hauen mit ihren Knüppeln. Das Meer ist schön. Ich habe noch keine Muschel für Oma und kein Heimweh." Ihren Namen krakelte Jo selbst darunter. Zu Hause, als sie schon lesen konnte, sah sie: Der Satz mit den Knüppeln fehlte!

 

 

 

Tagsüber führte man die Mädchen in einen Raum mit langen Schrankreihen an den Wänden, in denen Spielzeug untergebracht war. Selbstbedienung verboten. Die Schwestern teiltem jedem Kind das Spielzeug zu. Ein Mädchen bekam einen Teddy, dem die Augen fehlten, ein anderes ein paar Holzbausteine, das dritte eine Puppenküche ohne Töpfe. Die Schwestern saßen auf einer Bank an der Wand, wachsam die Augen auf die Kinder, den Knüppel auf dem Schoß. Sie unterhielten sich und lachten miteinander. Die Kinder flüsterten, lautes Sprechen war verboten.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Manchmal stand Jo morgens gleich nach dem Aufwachen, noch im Nachthemd, am Fenster und blickte auf das Meer hinaus. Sie sah dem Flug der Möwen zu. Eben noch segelte eine in der Luft, und im nächsten Moment stürzte sie sich ins Wasser.

 

 

 

Und wie gleichmäßig die Wellen an den Strand schlugen, so als ob sie mit dem Rhythmus einer geheimen Uhr kämen: Schwuppischwupp, schwuppischwupp, schwuppischwupp. Der letzte Schwupp war am lautesten, er klang zornig, so als ob die Wellen fühlten, dass ihr Leben dort am Strand zu Ende ging.

 

 

 

Und wenn Jo den Kopf hob, sah sie den Himmel, nichts als blauen oder grauen Himmel. Nirgends ein zerbombtes Haus, kein Hof mit Plumpsklos. Sie hätte nicht sagen können, was ihr daran gefiel, an diesem Himmel und den Möwen und den Wellen, sie wusste nur: Schön war es am Meer.

 

 

 

Der Strand lag vor dem Fenster, weiß, verlockend, menschenleer. Wie gern wäre Jo hinausgelaufen, hätte sich in den Sand geworfen und vor Glück geschrien. Aber die Kinder hatten im Haus zu bleiben. Einmal rissen trotz der Bewachung ein paar Jungen aus. Sie tobten vor den Fenstern des Mädchenschlafraums herum. Lange währte ihre Freiheit nicht, eine ganze Schar Schwestern trieb sie ins Haus zurück. Minuten später hörten die Mädchen Schreie aus der oberen Etage. Die Jungen wurden bestraft wie sie: mit Knüppelhieben.

 

 

12. Am Ende der Welt

 

 

 

Der Winter war da, die Nordsee schlug ihre Wellen an den Strand, auf dem eine dünne Schneedecke lag, die Möwen kreischten lauter als vorher. Und eines Tages war Weihnachten.

 

 

 

Die kleinen Mädchen wurden von den Schwestern kalt geduscht, sie zogen ihnen ihre besten Kleider an. Jo duschte sich allein und zog sich auch allein an: den blauen Norwegerpullover mit dem weißen Muster über der Brust, den die Großmutter gestrickt hatte, für den sie eine Wolldecke hatte aufräufeln müssen. Sogar für einen Schal, eine Pudelmütze und Handschuhe hatte die Deckenwolle ausgereicht.

 

 

 

Der Essraum war verzaubert. Von der Decke hingen rote und silberne Sterne, auf den Esstischen lagen weiße Tücher und Tannenzweige, Kerzen brannten. Ein Fotograf war da. Es blitzte, wenn er seine Fotos von den Kindern schoss. "Lacht, Kinder!", rief er, "ihr wisst nicht, wie gut ihr es habt!" Alle Kinder lachten, wenn er sie knipste, alle wollten ein Bild von sich haben.

 

 

 

In der Ecke stand ein geschmückter Tannenbaum, er reichte bis zur Saaldecke. Alle staunten: Dass es so etwas gab, so einen großen Tannenbaum! Der Heimleiter hielt eine Rede: Dass jetzt das Christkind geboren worden war, das alle Menschen Brüder sind und dass das Rote Kreuz die Feier ausgestaltet hat, und alle sollten dankbar sein in diesen schlechten Zeiten für die gedeckten Tische und die guten Gaben.

 

 

 

Und dann kam der Weihnachtsmann. Die größeren Kinder tuschelten: Es gibt gar keinen Weihnachtsmann, der da ist der verkleidete Hausmeister, und sein Bart ist aus Watte. Jo war skeptisch: Der Weihnachtsmann sah gar nicht aus wie der Hausmeister. Er war doch lebendig, er teilte Geschenke aus. Warum sollte es ihn nicht geben?

 

 

 

Eine Schwester rief die Namen der Kinder auf, dann rannte das Kind zum Weihnachtsmann, machte einen Knicks oder einen Diener und bekam ein Geschenk. Jo stritt sich mit einem größeren Mädchen, das neben ihr auf der Bank saß: "Klar gibt es einen Weihnachtsmann! Ich habe doch Augen im Kopf! Da steht er doch!" Das Mädchen lachte sie aus: "Du Doofe!"

 

 

 

Als Jo aufgerufen wurde, fragte sie den Weihnachtsmann, ob er sie erkenne, noch vom letzten Weihnachtsfest. Der Weihnachtsmann hüstelte verlegen, die Schwestern lachten. Der Weihnachtsmann erkannte Jo nicht, das war klar. Er hatte ihr wieder eine Puppe mitgebracht, aber ohne Schlafaugen und ohne echte Zöpfe. Jo flüsterte dem Weihnachtsmann etwas ins Ohr. "Lauter! Lauter!", riefen die Kinder. Der Weihnachtsmann lachte. "Sie fragt, ob ich ein echter Weihnachtsmann bin. Was meint ihr, Kinder, bin ich echt?" Die Kinder trampelten mit den Füßen. "Ja, echt, echt! Du bist ein richtiger Weihnachtsmann!", riefen sie.

 

 

 

Mit einem Mal wusste Jo, dass es keinen Weihnachtsmann gab, das Mädchen hatte recht gehabt: Der Weihnachtsmann war wirklich der Hausmeister. Aber sollten die Kleinen an den Weihnachtsmann glauben. Sie war wütend. Die Erwachsenen schwindelten, aber Kinder mussten immer die Wahrheit sagen, es war ungerecht!

 

 

 

Ein Festtagsessen: Ente mit Rotkohl. Jo starrte auf ihren Teller. Das Fleischstück hatte Haare. Wie Pieker staken sie aus dem Stückchen Ente heraus. Sie fragte Mariechen, ob sie es haben wolle. Mariechen schüttelte mit vollem Mund den Kopf. Jo aß die Kartoffeln und den Rotkohl. Einsam lag das Fleischstückchen auf dem Teller.

 

 

 

Eine Schwester lief durch die Reihen. "Und das Fleisch? Willst du es nicht essen? Runter damit, das gibt es nicht alle Tage!" Jo sträubte sich: "Es ist so eklig." Die Schwester stemmte die Arme in die Seiten: "Eklig? Was sagst du da? Eklig? Hat man so etwas schon gehört? Eklig, sagt sie! Du verwöhntes Luder! Aufsperren den Mund!" Die Schwester stopfte Stück für Stück der Ente in Jo hinein, Jo hatte den Mund voller Ente. Sie versuchte zu schlucken.

 

 

Mit einem Mal brach alles aus ihr heraus, was sie gegessen hatte: die Kartoffeln, der Rotkohl, die Soße – auf die weiße Tischdecke. Die Schwester schrie, Jo verstand nicht, was sie sagte. Ihr war elend zumute. "Aufstehen! Bück dich!" Sie spürte die Knüppelhiebe gar nicht.

 

Abends, im Bett, sagte Mariechen anerkennend: "Du hast gar nicht geheult."

 

 

 

Am nächsten Tag durften die Kinder mit den Spielsachen vom Weihnachtsmann spielen. Die neue Puppe war nicht so schön wie die alte, aber sie war eine Puppe. Jo legte sie schlafen. Sie sang ihr ein Abendlied. "Leise, Peterle, leise …" Womit die Puppe ihren Namen bekam.

 

 

 

Ein großes Mädchen stand plötzlich vor Jo. "Gib mir meine Puppe wieder!" Jo blickte erstaunt auf. "Das ist doch meine Puppe, vom Weihnachtsmann." Ehe Jo es mitbekam, griff das Mädchen nach der Puppe. Jo kriegte ein Bein der Puppe zu fassen. Noch ein Schritt, und sie saß auf dem Hintern, das Bein der Puppe in der Hand. Das Mädchen rannte weg. "Meine Puppe, die hat meine Puppe kaputtgemacht!", rief sie und schwenkte die einbeinige Puppe über dem Kopf.

 

 

 

Die Schwestern auf der Bankreihe an der Wand wurden aufmerksam. "Was ist denn hier los! Immer wieder Borkmann! Bücken!"

 

 

 

Jo weinte. Sie schrie bei jedem Schlag. Vor Wut! Die Erwachsenen schwindelten nicht nur, sie waren auch zu faul, die Wahrheit herauszufinden. Das war ungerecht!

 

 

 

Die Weihnachtstüten der Kinder, voller Süßigkeiten und Schokolade, hatten die Schwestern in einen Schrank eingeschlossen. "Damit keiner klauen kann", sagten sie. Jo sah ihre Weihnachtstüte nicht wieder. Die großen Mädchen flüsterten, die Schwestern hätten ein paar Tüten mitgenommen, für ihre eigenen Kinder.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Der Winter verging mit Spritzen, Lebertran und Stürmen vor dem Fenster. Die Nordsee kam mit großen Wellen, sie spritzten die Fensterscheiben voll.

 

 

 

Doch eines Tages schien wieder die Sonne. "Alle die Mäntel anziehen! Los, los, wir gehen spazieren!" Die Schwestern klatschten in die Hände.

 

 

 

Spazieren, Jos Herz hüpfte vor Freude. Endlich an den Strand dürfen, endlich das Meer riechen, so wie es damals gerochen hatte, am Steg in Hamburg: nach Schlick, nach Kieselsteinen, nach Muscheln. Das Wasser mit den Händen schaufeln, es sollte salzig sein. Und weich wie Butter, sagten die großen Mädchen.

 

 

 

"Zweierreihen, anfassen! Und dass ihr euch benehmt! Sonst denken die Leute, hier kommt eine Herde Hottentotten!"

 

 

 

Mariechen lief neben Jo. Vor ihnen unterhielten sich zwei große Mädchen über ihre Väter. "Meiner ist ein Baron", sagte die eine. Die andere kicherte: "Und meiner Fürst Kacke!"

 

 

 

Jo mischte sich ein. "Das ist noch gar nichts! Meiner ist der Kaiser von Amerika!"

 

 

 

"Du spinnst ja", sagte die mit dem Fürst-Kacke-Vater und zeigte Jo einen Vogel.

 

 

 

"Selber spinnen macht fett. Ich bin sogar eine Prinzessin aus Chikago!" Ingo hatte von Chikago geschwärmt, dort lebten nichts als Revolvermänner, hatte er gesagt, so stolz, als ob ihm dieses Chikago gehörte.

 

 

 

Das Mädchen lachte höhnisch. "Und wo hast du deine Krone?"

 

 

 

Jetzt war Jo in Verlegenheit. Schnell sagte sie: "Die? Die hat nicht mehr reingepasst in den Koffer!"

 

 

 

Das Mädchen wusste keine Antwort, die Jo übertrumpfen konnte. "So was Verlogenes übersehe ich doch glatt!", sagte sie.

 

 

 

Mariechen schmiegte sich an Jo. "Eine richtige Prinzessin?", fragte sie.

 

 

 

"Klar!", sagte Jo.

 

 

 

Der Ort war klein, die Häuser waren niedrig, ein paar gepflasterte und ungepflasterte Straßen. Leute standen am Straßenrand, sie ärgerten sich über die Heimkinder und riefen ihnen etwas hinterher, was Jo nicht verstand.

 

 

 

Die Obstbäume standen weiß im Hochzeitskleid da, wohin das Auge blickte, nichts als Wiesen, grün, grün, grün. Ein paar helle Punkte darauf, weit entfernt. Die Punkte bewegten sich langsam. "Das sind Kühe!" wussten ein paar Kinder.

 

 

 

"Weißt du, was Kühe sind?", fragte Jo. Mariechen hob die Schultern. Auf dem Weg lagen grüne pampige Flatschen. "Kuhfladen!" ging es durch die Reihe. Wie kamen diese Kuhfladen hierher, mitten auf den Weg? Und was war das, ein Kuhfladen? Was ein Laden war, wusste Jo. Aber Kuhf?

 

 

 

Sie kamen an ein Bauernhaus. Der Bauer führte die Kinder in den Stall. Es stank, sie hielten sich die Nasen zu. "Im Stall muss es stinken!", sagte der Bauer. "Und das hier ist meine Mastsau Luise!" Ein kugelrundes, rosiges Tier, es hatte eine dicke Nase, zwei große Löcher darin. Jo dachte nach: Der Bauer hatte Sau gesagt, so etwas sagte man nicht. Jos Begeisterung für die Freundlichkeit des Bauern sank unter Null.

 

 

 

Weiter ging der Spaziergang. Wieder Wiesen, strahlendblauer Himmel, Insekten summten. Irgendwo zwitscherten Vögel. Die Kinder waren still geworden. Manche maulten, sie wollten zurück ins Heim.

 

 

 

"Der Deich!", wurde vorn geschrien. Was ein Deich war, wusste Jo nicht, aber sie wollte ihn sehen, sie drängelte, Mariechen an der Hand, nach vorn. Die Kinder bestaunten den Deich: Es waren Steine, gemauerte blanke Pflastersteine. Die Insel machte an dieser Stelle einen kleinen Bogen, das Meer schlug wütend an den Deich, es schäumte. Jo ekelte sich ein bisschen: Wie der Geifer der Pferde in Herrn Kluges Schmiede.

 

 

 

Trotzdem, Jo war begeistert, sie lief nach vorn, bis an den äußersten Rand des Deichs. Sie breitete die Arme aus, Wellen und Geifer bespritzten sie, der Wind wehte sie fast um. "Hier ist die Welt zu Ende!", rief sie, "huhu, das Ende der Welt!"

 

 

 

Und der Wind trug ihre Worte davon, weit, weit über das Meer. Der Himmel blies einen kleinen Sturm, er war wohl derselben Meinung wie Jo.

 

 

13. Eine schöne Überraschung

 

 

 

Die letzte Untersuchung beim Arzt. "Gratuliere!", sagte er, "alles in Ordnung. Aber um den Lebertran, junges Fräulein, kommst du nicht herum. Hier eine Flasche zum Mitnehmen. Und schön austrinken!" Er lachte gutmütig.

 

 

 

Es ging ans Kofferpacken. Die Schwestern halfen den kleineren Kindern. Jo brauchte keine Hilfe. Alles zwitscherte und lachte: Es geht nach Hause!

 

 

 

Jo lachte nicht. Sie stand am Fenster und sah ein letztes Mal aufs Meer hinaus. Meer, dir ist es egal, wer an deinem Ufer weint, flüsterte sie. Deine Wellen werden immer an den Strand schlagen, und die Möwen werden immer kreischen. Nur ich, Jo, bin dann nicht mehr hier.

 

 

 

"Jo, komm schon, anstellen! Es geht los!" Mariechen stand vor Jo. Sie war noch zarter geworden. Auch sie würde aus Jos Leben verschwinden. Jo gab ihr einen Kuss. "Falls wir auseinandergerissen werden, Vorschuss. Du fährst nach Köln und ich nach Berlin. Ich schreibe dir, wenn ich erst richtig schreiben kann. Merk dir meine Adresse: Berlin, Kellerstraße 11."

 

 

 

Die Rückfahrt mit dem Schiff kam Jo kürzer vor als die Hinreise im Herbst, der Schaukelzauber war weg. Kaum auf dem Schiff, und schon kam Hamburg in Sicht. Der Zug fuhr ein. Die Kinder wurden eingeteilt. Wie Jo es geahnt hatte: Die Berliner in einem Wagen, die anderen in einem anderen. Unterwegs würde der Zug getrennt, sagten die Schwestern.

 

 

 

Mariechen weinte. Sie umarmte ihre Freundin Jo. "Ich schreib dir, Ehrenwort!" Dann war sie inmitten der anderen Kinder verschwunden.

 

 

 

Jo saß am Fenster. Sie war traurig. Alles, was sie sah, das sah sie heute zum letzten Mal: Das Meer, Mariechen, das Schiff, den Zug. Warum? Die Landschaft flog vorüber, Felder, Wälder, unbekannte Städte in Trümmern. Die Dampflok prustete, sie hatte es eilig.

 

 

 

Es war schon dunkel, als der Zug Berlin erreichte. Alle schrien und lachten, sie hatten ihre Verwandten auf dem Bahnhof gesehen und winkten. Jo wartete, bis die Drängelei vorbei war, dann stieg sie ganz langsam aus. Sie sah sich um: Wo war die Großmutter? Aber da, die Mutter! Und Onkel Fred war dabei, der Borkmann-Sohn, den sie kaum kannte.

 

 

 

Die Mutter stürzte auf sie zu, umarmte und küsste sie ab. "Mein Gott, was bist du groß geworden! Und dick! Sieh mal, wen ich mitgebracht habe. Eine schöne Überraschung!"

 

 

 

Jo gab Onkel Fred die Hand und machte einen Knicks. "Guten Tag, Onkel Fred", sagte sie. Onkel Fred lachte. Er lachte so sehr, dass ihm die Tränen kamen. Jo verstand nicht: Was war denn so lustig?

 

 

 

Onkel Fred lachte noch immer. "Aber Jo", auch die Mutter lachte, "das ist doch nicht …"

 

 

Onkel Fred unterbrach sie: "Warte, sag nichts. Vielleicht kommt sie von selbst drauf, wer ich bin."

 

 

 

"Du bist nicht Onkel Fred? Du schwindelst. Klar, du bist Onkel Fred! Ich weiß doch, wie der aussieht!"

 

 

 

Onkel Fred stellte sich vor Jo hin: "Sieh mich mal genau an. Wer bin ich?"

 

 

"Onkel Fred."

 

 

 

"Nein, Onkel Fred bin ich nicht, ich bin …" Die Mutter fiel ihm ins Wort: "Aber das ist doch, das ist doch, Jo – das ist der Pappi! Erkennst du ihn denn nicht? Das Foto, das auf dem Vertiko …"

 

 

 

Jo war noch nicht überzeugt. "Du bist nicht Onkel Fred? Du bist der Mann mit dem Stahlhelm? Aber du siehst doch aus wie Onkel Fred. Wie kommt denn das – seid ihr Zwillinge?"

 

 

 

"Zwillinge!" Onkel Fred lachte. "Du machst mir Spaß. Sag Pappi zu mir, ich bin doch nicht mein eigener Bruder! Ich bin dein Pappi!"

 

 

 

"Der aus Russland? Und ich soll Pappi zu dir sagen?"

 

 

 

"Willst du mir keinen Kuss geben?" Der neue Pappi breitete die Arme aus.

 

 

 

"Nein." Jo war ganz Misstrauen.

 

 

 

Die Mutter mischte sich ein. "Sei nicht bockig, gib dem Pappi einen Kuss. Mach schon, wir müssen nach Hause."

 

 

 

"Und wo ist Oma? Warum ist sie nicht mitgekommen?"

 

 

 

Die Mutter presste die Lippen zusammen. "Du gehst nicht mehr zu deiner Oma", sagte der neue Pappi. "Du wohnst jetzt bei uns. Wir sind eine Familie, die Neussens sind eine andere."

 

 

 

Nicht mehr zu Oma gehen! Zu ihrer Oma! Während der S-Bahn-Fahrt sah Jo wütend zu dem neuen Pappi hinüber. Er beachtete sie nicht, sah aus dem Fenster. Dass er aber auch so aussah wie Onkel Fred! Wie die Zwillinge Wolfgang und Peter, die sie nur unterscheiden hatte können, wenn sie beieinander standen. Peter fiel ihr wieder ein, Peter war ja tot.

 

 

 

Das Haus Kellerstraße elf schlief schon. Alles war wie immer, verändert hatte sich nichts. Es roch auch wie immer: nach dem Kohlengrus aus dem Keller, ein bisschen muffig, nach den Klos auf der Treppe. Sogar die Stelle im Treppenhaus, wo Jo mal ein Männchen in den Wandputz geritzt hatte, sah aus wie immer. Jo fuhr mit der Hand darüber hinweg: Guten Tag, Männeken.

 

 

 

"Darf ich bei Oma klingeln?", fragte sie.

 

 

 

"Oma schläft schon. Deine Sachen sind alle schon oben, bei uns in der Wohnung." Die Mutter schloss die Wohnungstür auf. "Du schläfst in der Küche", sagte sie. "In der Stube ist kein Platz für dein Kinderbett."

 

 

 

"Aber ich bin doch schon viel zu groß! Da passe ich gar nicht mehr rein. In Wiek auf Föhr …"

 

 

 

"Wiek auf Föhr ist vorbei. Jetzt heißt es wieder Kellerstraße. Und red nicht, zieh dich aus. Morgen früh erzählst du, wie es in Wiek auf Föhr war. Es ist schon spät, Veronika schläft auch schon."

 

 

 

"Aber morgen früh darf ich zu Oma gehen?"

 

 

 

"Darüber reden wir noch", sagte die Mutter. "Aber dass der Pappi das nicht mitkriegt."

 

 

 

"Warum nicht?"

 

 

 

"Frag nicht. Es hat Krach gegeben. Dass du mir nicht noch mehr Ärger machst. Morgen früh, wenn der Pappi zur Arbeit geht, erzähle ich dir alles. Und jetzt gute Nacht."

 

 

 

Jo lag in ihrem alten Kinderbett. Es war wirklich schon zu klein geworden, sie musste die Beine anwinkeln. Sie dachte an all das Neue, das an diesem Tag auf sie eingestürmt war: Die Fahrt nach Berlin, Mariechen, die Schwestern, das Lachen der Kinder. Und der neue Pappi.

 

 

Und heute morgen noch war sie an der Nordsee gewesen. Und natürlich würde sie zu Oma gehen! Krach hatte es also gegeben. Warum? Jo kamen die Tränen, alles war verloren: die Nordsee, Mariechen und jetzt auch noch Oma. Und den neuen Pappi? Den brauchte sie nicht. Was wollte der hier?

 

 

 

Am nächsten Morgen, der neue Pappi war schon zur Arbeit gegangen, saß Jo mit der Mutter und Veronika beim Frühstück in der Stube.

 

 

 

"Plötzlich stand er vor der Tür", sagte die Mutter. "Kaum wiederzuerkennen, er ist so dünn geworden. Ach ja, so war das, als er …"

 

 

 

"Warum hat es Krach gegeben?" Der neue Pappi interessierte Jo nicht. "Du wolltest es mir erzählen. Warum darf ich nicht mehr bei Oma sein?"

 

 

 

"Nicht so energisch, meine Tochter!"

 

 

 

Jo blickte die Mutter trotzig an. "Ich gehe aber wieder zu Oma. Ich wollte ihr Muscheln mitbringen, aber wir durften nicht an den Strand. Guten Tag darf ich doch wenigstens sagen! Ich verstehe das nicht."

 

 

 

"Naja, der Krach … Also ich weiß nicht, ob du das schon verstehst. Pappi war in Russland, in Gefangenschaft …"

 

 

 

"Na und? Weiß ich doch."

 

 

 

"Aber er, also wenn Krieg ist, wenn die Menschen sich totschießen, wenn also … Nein, das verstehst du noch nicht."

 

 

 

"Ich weiß schon, was Krieg ist. Wenn Bomben fallen und wir in den Bunker rennen müssen."

 

 

 

"Aber Pappi war Soldat, und er wollte kein Soldat sein. Er musste auf Leute schießen, die gar nicht erschießen wollte. Und da ist er hingegangen zu den fremden Soldaten, zu den Russen,

 

und hat gesagt, ich ergebe mich."

 

 

 

"Ach so. Dann wollte er gar nicht schießen?"

 

 

 

"Er wollte, dass es Schluss ist mit dem Krieg. Verstehst du?"

 

 

 

"Aber das ist doch gut! Ich wollte auch, dass Schluss ist mit dem Krieg. Im Bunker war es so kalt. Und die Sirenen …"

 

 

 

"Und dann musste ich zur Gestapo. Erst galt er ja nur als vermisst. Aber irgendwie, weiß der Himmel, ist rausgekommen, dass er Überläufer ist."

 

 

 

"Gestapo? Was ist das?"

 

 

 

"Kind, dir das zu erklären … Sie haben eine Haussuchung gemacht, hier bei uns, vierundvierzig. Du warst damals noch ganz klein."

 

 

 

"Die Gestapo – das waren Soldaten?" Jo überlegte. Ja, da war etwas gewesen … Soldaten, ja, einmal, als sie noch klein war … Sie lag im Bett, es war Nacht. Plötzlich Geschrei, Männer in der Wohnung. Mutti weinte, sie stand am Ofen, ganz in die Ecke gedrückt …

 

 

 

Plötzlich tat ihr die Mutter leid. "Aber verhaftet haben sie uns nicht", sagte sie zärtlich.

 

 

 

"Und dann musste ich hin, zur Gestapo. Aber ich hatte Glück. Der Gestapomann war einer aus meiner Klasse. Er hat den Fall vertuscht. Sie hätten uns alle ins KZ gebracht, mich, meinen Vater, meine Mutter, Siggi, uns alle. Dich auch."

 

 

 

"Aber warum darf ich deshalb nicht mehr zu Oma?'"

 

 

 

"Herrgott, dein Opa, der Brabbelkopp! Ein oller Hartschädel wie aus dem Buche! In den geht nichts mehr rein! Verräter, hat er Pappi beschimpft, bringst die ganze Familie ins KZ, hat er gesagt, zu mir, seiner eigenen Tochter. Mein eigener Vater! Und zu meinem Mann, der gerade aus Russland kommt …"

 

 

 

"Aber warum Verräter? Was soll er denn verraten haben? Und deshalb darf ich nicht mehr zu Oma? Und was ist das – ein Kazett? Ein Kinderheim?"

 

 

 

"Frag nicht. Das wirst du später alles erfahren. Wenn du größer bist."

 

 

 

"Aber ich will zu Oma gehen!"

 

 

 

"Dann geh. Sie ist schließlich meine Mutter. Aber ich weiß von nichts."

 

 

 

Jo sprang auf. "Ich geh gleich. Sie wartet, dass ich klingele. Aber dass ich keine Muscheln mitbringen konnte …"

 

 

 

Die Treppen herunterfliegen, klingeln, brrr, brrr, klingeln, klingeln – alles eins.

 

 

 

"Oma! Oma! Ich bin wieder da!"

 

 

 

Großmutter riss die Enkelin an sich. Sie schluchzte, Jo schluchzte. Ihr Gesicht war tränennass, von ihren und den Tränen der Großmutter.

 

 

 

"Komm erst mal in die Stube …" Großmutter wischte sich die Tränen ab. "Ich altes Weib, hab am Wasser gebaut … Komm, Nase putzen …"

 

 

 

Omas Stube … Jo schwebte hinein. Wieder zu Hause. Endlich.

 

 

14. Ärger mit dem lieben Gott

 

 

 

Wieder wurde es Sommer. Jo war jetzt sieben Jahre alt. Tagsüber, wenn der neue Pappi auf Arbeit war, ging sie zur Großmutter. Heimlich, die Mutter bangte, dass er es eines Tages erfahren würde. Das kleinste Missgeschick, eine Unachtsamkeit – und der Teufel wäre bei Borkmanns los! Aber Jo war geschickt geworden. Wenn der neue Pappi abends fragte, was sie den ganzen Tag über angestellt hatte, glänzte Jo mit allerhand Ausreden: auf der Straße gespielt, mit der Mutter einkaufen gewesen, mit Veronika gespielt, der Mutter in der Küche geholfen.

 

 

 

Großvater murrte. "Du, Jule", er winkte Jo gefährlich mit dem Zeigefinger, "du kannst deinem Großmaul sagen, wir füttern hier sein angeheiratetes Balg durch. Kostet was!" Das Großmaul, das war der neue Pappi. Und das angeheiratete Balg, das war sie, Jo.

 

 

 

Großmutter ging jetzt fast jeden Tag zur Kirche. Jo ging mit. Sie lernte beten und Kirchenlieder singen. Als sie noch bei der Großmutter wohnte, hatte sie Kindergebete gelernt: "Ich bin klein, mein Herz ist rein, du bist mein Gott, ich will immer artig sein."

 

 

 

Großmutter las in der Bibel, während das Mittagessen auf dem Feuer brodelte. Und sie erzählte der Enkelin, wie es war, als Gott die Menschen schuf: Er nahm einen Klumpen Lehm und bastelte daraus den Adam. Und dann operierte er Adam eine Rippe heraus, das war dann die Eva. Großmutter wusste auch, wie Gott die Erde und das Weltall erschaffen hatte: in sechs Tagen. Dann erst war Adam drangekommen.

 

 

 

Jo war skeptisch. Nahm die Großmutter sie nicht ernst? Die Geschichte von Adam und Eva zum Beispiel, das war doch ein Märchen. Und was sollte sie mit Märchen, sie war doch schon groß, sie wusste, wie Menschen gemacht werden. Ingo hatte es ihr erklärt: Mit Schweinereien, und nicht im Garten Eden, sondern nachts, im Bett.

 

 

 

Der neue Pappi hatte gesagt, im Himmel gibt es keinen Gott, bloß Wolken. Und die sind für das Wetter zuständig, aber nicht für einen alten Mann mit langem Bart. Und Engel, hat er gesagt, gibt es schon gar nicht. Gott, das sei nur was für Bekloppte, eine Droge fürs dumme Volk. Und seine Kinder sollten mal kluge Menschen werden, die nicht der Kirche und dem Papst auf den Leim gehen. Sie sollen auf ihre eigene Kraft vertrauen und auf ihren eigenen Kopf. Deshalb würden sie auch keine schlechteren Menschen werden als die Betschwestern, jopp tui matsch. Jo hatte alles begriffen, nur dieses "Jopp tui matsch" – was hieß denn das?

 

 

 

Der neue Pappi lachte. "Das ist Russisch. So fluchen sie in Russland." Er kannte noch allerhand andere Flüche. "Einer immer schlimmer als der andere", sagte die Mutter. "Fluch nicht vor den Kindern!"

 

 

 

Großmutter, als Jo ihr erzählte, dass es keinen Gott gibt, war entsetzt: "Aber Kind, wie kann man das einem so jungen Menschen bloß beibringen? So was Verantwortungsloses! Wie willst du denn durchs Leben kommen – ohne Gott? In der Kirche zeige ich dir, dass es Gott gibt. Und außerdem steht es in der Bibel."

 

 

 

Jo ging mit zur Kirche, jeden Tag. Sie kannte Pfarrer Neubert schon lange, er war ein freundlicher Mann, der ihr manchmal einen Keks und bunte Bildchen zugesteckt hatte.

 

 

 

Der Weg zu Großmutters Kirche war weit, und als sie ankamen, war der Gottesdienst heute fast beendet.

 

 

 

"So gedenken wir denn der Toten des schrecklichsten aller Kriege", sagte Pfarrer Neubert am Altar und warf einen strengen Blick auf die Neuankömmlinge, "die wie unser Herr Jesus Christus ihr Leben gegeben haben für uns Sterbliche in diesem Jammertal, die wir nur mit Gottes Hilfe würdig sind, dieses Geschenk anzunehmen. Amen."

 

 

 

In den Bänken saßen ein paar alte Frauen. "Amen", sagten sie im Chor.

 

 

 

"Wir singen jetzt 'Christlicher Glaube und christliches Leben', liebe Gemeinde, Seite 243." Er begann zu singen:

 

 

 

"Durch Adams Fall ist ganz verderbt

 

menschlich Natur und Wesen

 

ohn Gottes Trost, der uns erlöst

 

hat von dem großen Schaden,

 

darein die Schlang Eva bezwang,

 

Gotts Zorn auf sich zu laden."

 

 

 

Die alten Frauen bewegten die Münder, Großmutter sang mit kräftiger Altfrauenstimme, sie schloss halb ihre Augen. Das Lied hatte viele Strophen. Als der Gesang an die Stelle gekommen war: "… durch unsern Herrn Jesum Christum, deinen Sohn, der mit dir und dem Heiligen Geiste lebet und regieret von Ewigkeit zu Ewigkeit", seufzte sie aus voller Brust.

 

 

 

"Warum singst du nicht mit? Du kennst das Lied inzwischen doch", sagte sie zu Jo.

 

 

 

Jo konnte ihr nicht erklären, dass sie, egal, was sie tat, irgend jemanden verraten müsse: entweder sie, die Großmutter, oder den neuen Pappi. Deshalb probierte sie es, keine Verräterin zu werden, indem sie zwar mit der Großmutter in die Kirche ging, aber nicht mitsang. Keiner von beiden konnte ihr so einen Vorwurf machen.

 

 

 

"Wo ist denn nun Gott? Du wolltest ihn mir schon lange mal zeigen."

 

 

 

Großmutter wurde ernst. "Man kann ihn nicht sehen, man muss ihn spüren, er ist überall, vorn am Altar, in der Kerze, sogar in der Luft – in mir, in dir, in jedem Menschen", sagte sie. "Der gottlose Schubiak, dein sogenannter Vater, ist nur zu dumm, das zu begreifen. Das hat er in Russland gelernt."

 

 

 

Heute war es schon früher Nachmittag, als sie nach Hause kamen. Großvater empfing sie wütend. "Wie lange soll ich noch warten, bis du Jule dich um deinen Mann kümmerst! Jeden Tag in die Kirche latschen, Pfaffe hier, Pfaffe da – aber zu Hause sitzt dein Mann und schiebt Kohldampf! Ab heute geht es nur noch sonntags in die Kirche! Basta!"

 

 

 

Jo dachte nach: Wer nicht in die Kirche ging und Gott nicht in sich spüren wollte, war ein gottloser Schubiak wie der neue Pappi. Aber Großvater? Der wollte doch auch nicht Gott in sich spüren, der ging nie zur Kirche und las auch nicht in der Bibel. War der auch ein gottloser Schubiak? Und warum war er dann Großmutters Mann?

 

 

 

Abends, wenn sie in dem alten Kinderbett in der Küche lag und betete, wartete sie darauf, Gott in sich zu spüren. Aber sie spürte ihn nicht. Nur das Knie tat weh, das spürte sie. Das kam davon, dass das Bett zu kurz war, und vom Wachsen, hatte der neue Pappi ihr erklärt. Bis zum Herbst, versprach er, wenn sie eingeschult wird, werde er ein neues Bett für sie auftreiben müssen, ein richtig großes, für Erwachsene.

 

 

 

Großmutter hatte ihr das Vaterunser so lange vorgesprochen, bis sie es auswendig aufsagen konnte. Jeden Abend vor dem Einschlafen flüsterte sie es, in der Hoffnung, eines Tages Gott doch noch in sich spüren zu können. Sie war gerade bei "wie auch wir vergeben unseren Schuldigern", als sie zusammenschreckte: Der neue Pappi stand neben ihrem Bett!

 

 

 

"Was flüsterst du denn da?"

 

 

 

"Nichts. Gar nichts. Nur so."

 

 

 

"Aber ich habe doch ganz deutlich gehört, dass du geflüstert hast. Seit wann wird denn bei Borkmanns gebetet?"

 

 

 

"Ich habe gesprochen, nur so, mit mir selbst …"

 

 

 

"Red keinen Unsinn, ich habe doch alles verstanden! Also, woher hast du das?"

 

 

 

"Von … Schimpf nicht, von Oma. Sie hat gesagt, wenn ich jeden Abend bete, werde ich Gott in mir spüren."

 

 

 

"Gott! Heiliger Bimbam! Dass ich nicht lache! Das kann auch bloß auf dem Mist von denen da unten wachsen!"

 

 

 

Der neue Pappi sah sie ernst an. "Also, mein Fräulein, ab jetzt: Noch ein einziges Gebet, und du lernst mich kennen! Hast du verstanden?"

 

 

 

"Ja, hab ich."

 

 

 

"Na, dann verstehen wir uns ja."

 

 

 

Am nächsten Morgen kam die Mutter in die Küche gestürzt. "Was war denn hier gestern abend los? Was hast du angestellt? Die brüllen sich bei Muttern an wie die Kesselflicker! Wegen dir!"

 

 

 

Jetzt hörte Jo es auch: Der neue Pappi und der Großvater schrien sich an. Es schallte durchs ganze Treppenhaus. Worum es ging, verstand sie nicht. "Vielleicht", sagte sie schüchtern, "wegen dem Vaterunser gestern abend?"

 

 

 

"Himmel, meine Mutter! Ihr Frommgetue! Und du? Lass die Beterei, Jo. Das bringt bloß Unglück. Aber dass der Helmut gleich so auf die Pauke hauen muss! Herrje, und mein Vater, der Stinkstiebel! Die schlagen sich die Köpfe ein!" Sie stürzte wieder aus der Küche.

 

 

 

Jo stand an der Tür. Sie lauschte. "Du hirnverkleisterter Stalinanbeter! Du vaterlandsloser Bolschewist!", hörte sie Großvater brüllen. "Du verdammter, störrischer Stehkragenprolet!" die Antwort des neuen Pappi. Polternde Schritte auf der Treppe, Jo huschte ins Bett.

 

 

 

"Dem habe ich es aber gegeben!" Der neue Pappi schnaufte. "Wo gibt es denn so was! Mir das Kind mit dem Pfaffenkram versauen!  Madam, wenn ich dich noch mal beim Beten erwische! Und die Neussens, die da unten, existieren nicht mehr! Merk dir das, ein für allemal!"

 

 

 

Jo kroch unter das Bettdeck. Wenn sie nur wüsste, wer recht hatte: Großmutter oder der neue Pappi?

 

 

 

Sie trat ans Küchenfenster, barfuß und im Nachthemd. Am Himmel war außer Wolken nichts zu sehen. Sicher hatte der neue Pappi recht, da oben konnte doch niemand sitzen. Der würde runterfallen, der müsste sich schon an den Wolken festhalten. Aber Großmutter hatte gesagt, man könne Gott nicht sehen. Verflixt, wer hatte denn nun recht?

 

 

15. Noch einmal Ärger mit dem lieben Gott

 

 

 

Wieder flog der Herbst ins Land, mit fallenden Blättern und launischen Winden, die durch die Ruinen pfiffen. Der neue Pappi war aufgeregt: Jo wurde eingeschult. Ein zweites Mal, diesmal aber richtig, mit Schultüte.

 

 

 

Die Schule in der Müllerstraße war ein Backsteinbau, brandgeschwärzt, imposant – ein Riese gegen die Schar Menschlein, die durch die Eingangstür strömte, beklommen blickende Kinder mit Schultüten im Arm, die ungewohnte Schulmappe auf dem Rücken, aus der das Schwämmchen für die Schiefertafel baumelte.

 

 

 

Die Lehrerin hieß Fräulein von Eckstein. Sie war alt, mager, furchteinflößend. Ihr Haar war schneeweiß, ein kleiner Dutt zierte den Hinterkopf, eine Kamee das hängende Stück Haut unterm Kinn. Ihr schwarzes Seidenkleid knisterte, wenn sie durch die Bankreihen ging. Sie war eine der bedauernswerten Lehrerinnen, die von ihren adligen Familien in den Gouvernanten- oder Lyzeumsdienst abgeschoben worden waren. Lehrerinnen mussten unpolitisch sein und durften nicht heiraten. Gewöhnlich waren sie nicht in der Nazipartei gewesen und hatten die schlimmen Jahre an irgendwelchen Privat- oder Konfessionsschulen überdauert. Jetzt, nach dem Krieg, im Jahre 1948, als noch klar war, dass die meisten Lehrer nazistisch belastet waren, wurden die adligen Fräulein im öffentlichen Schuldienst händeringend gebraucht.

 

 

 

Der neue Pappi war skeptisch. "Na, das wird ja was werden – das Fräulein von Dingsda und du Rüpel!"

 

 

 

Aber er unterschätzte Jo, sie fügte sich in das strenge Eckstein-Regiment: Gerade sitzen und stehen, nicht lümmeln, Beine stillhalten, Schwatzen und Einschlafen verboten, radiert wird nicht, hier vorn ist die Tafel, Mappenkontrollen, Hände vorzeigen, gelegentlich ein Schlag mit dem Zeigestock auf die Finger, wenn ein Übeltäter gar zu verstockt war.

 

 

 

Das Schreiben und Lesen lernte Jo spielend. Sie galt als gute, gefügige, selbstständige Schülerin. Und wenn die Kreide durch die Klasse flog, duckte sie sich und unterdrückte ein Kichern. Das Kinderheim in Wyk auf Föhr hatte sie Schmerzhafteres gelehrt, und gegen brüllende Erwachsene war sie abgehärtet. Sie fühlte sich wohl in der Schule.

 

 

 

Wäre da nicht der Religionsunterricht gewesen. Jo war das einzige Kind in der Klasse, das nicht am Religionsunterricht teilnahm. Und weil die Religionsstunde nicht, wie es vernünftig gewesen wäre, an den Anfang oder an das Ende des Schultages gelegt wurde, sondern in die dritte Stunde, musste Jo, während die Klasse im Warmen saß, auf dem langweiligen, zugigen Schulhof herumstehen und auf den Beginn der nächsten Unterrichtsstunde warten. Ihr Mäntelchen hielt nur schlecht den Wind und den Frost ab, ihre Stoffschuhe mit den Holzsohlen waren eher Ansichtssache – kurz, Jo beschloss eines sehr kalten Wintertages, nicht mehr für die Religionsfreiheit zu leiden und blieb während des Religionsunterrichts auf ihrem Platz sitzen. Ein schlechtes Gewissen hatte sie deshalb vor dem neuen Pappi nicht, sie vertraute seinem gesunden Menschenverstand.

 

 

 

Sie wurde eine begeisterte Anhängerin des Religionslehrers, des Herrn Wipprecht. Er war jung, freundlich, mitfühlend und migränekrank. Wenn er keine Kopfschmerzen hatte, brachte er die Klasse zum Lachen oder ihr ein neues Kirchenlied bei. Und was er alles wusste! Die Geschichte von Adam und Eva im Garten Eden kannte er, das mit den sechs Tagen, in denen Gott die Erde und das Weltall erschaffen hatte und außerdem viele traurige Geschichten vom Jesuskind in der Krippe zu Bethlehem.

 

 

 

Als er die Sache mit Adam und Eva erzählte, kicherte Jo. Sie wusste es besser. Alle wussten es besser, aber alle hörten mit scheinheilig aufgerissenen Ohren zu oder kicherten leise, und Herr Wipprecht freute sich: Ausgezeichnete Mitarbeit.

 

 

 

"Wer kennt ein Tier, das kein Fell hat?", fragte er. Jo wusste, es ging um die hundsgemeine Schlange, die Eva verführte, den Apfel vom Baum der Erkenntnis abzureißen und reinzubeißen. Sie meldete sich: "Das Schwein, das hat kein Fell", sagte sie spitzbübisch.

 

 

 

Herr Wipprecht stutzte, darauf war er noch gar nicht gekommen. "Sehr gut!", sagte er trotzdem. Er stellte die Frage anders: "Welches Tier hat keine Beine?"

 

 

 

Alle meldeten sich: "Die Blindschleiche! Ein Fisch! Der Tausendfüßler!" Der Tausendfüßler kam von Jo.

 

 

 

"Nein", sagte Herr Wipprecht sehr ernst, "der Tausendfüßler, das ist nicht richtig. Der hat Beine, sogar tausend. Und der Fisch, ja, das stimmt, der hat keine Beine. Aber darauf komme ich noch zurück. Jetzt aber, Kinder – die Blindschleiche, da kommen wir der Sache schon näher. Es ist die Schlange, die ich meine. Die Schlange, die falsche Schlange, die vom Teufel gesandt wurde."

 

 

 

Jo war begeistert, dass Religion nicht so langweilig wie bei Pastor Neubert in Großmutters Kirche war, und eines Tages erzählte sie der Großmutter von Herrn Wipprecht. "Aber das ist ein Geheimnis", sagte sie. Großmutter freute sich: Ihre Enkelin würde trotz dieses abartigen Schwiegersohns eine gute Christin werden.

 

 

 

Jo ahnte nicht, was sie angerichtet hatte. Natürlich konnte die Großmutter das Geheimnis nicht lange für sich behalten, sie prahlte vor der Tochter mit ihrer guten christlichen Erziehung, die den Grundstein für Jos nunmehrige Folgsamkeit gelegt habe. "Und in der Schule ist sie die Beste in Religion!", fügte sie hinzu.

 

 

 

Am nächsten Morgen brachte der neue Pappi Jo in die Schule. Vor der Tür des Direktorzimmers verabschiedete er sich mit vielsagenden Zornesfalten auf der Stirn. Jo ließ sich alle ihre Missetaten durch den Kopf gehen, sie kam nicht darauf, warum der neue Pappi unbedingt mit der Direktorin sprechen wollte. Sie war guten Mutes.

 

 

 

Es war während des Leseunterrichts. Die Direktorin stand plötzlich vor der Klasse. "Wer von euch ist Johanna Brockmann?" Jo meldete sich und stand auf. "Was hast du deinem Vater erzählt? Dass du gezwungen wirst, am Religionsunterricht teilzunehmen? Schäm dich für diese Lüge!"

 

 

 

Jo begriff: Großmutter hatte ihr Geheimnis verraten. Deshalb also hatte der neue Pappi mit der Direktorin gesprochen! Die Erwachsenen waren alle gleich: Sie selber schwindelten die Kinder an, aber wenn die Kinder mal schwindelten, dann war das gleich ein großes Verbrechen. Aber sie hatte gar nicht geschwindelt, sie war unschuldig! Auch Jesus musste unschuldig leiden, und Jo fühlte sich gut in ihrem Leiden für die christliche Sache. Mit Großmutter, das war klar, musste sie ab jetzt ein bisschen vorsichtiger umgehen.

 

 

 

Abends dann die Standpauke: "Und wenn du noch einmal … Ich zieh dir den Hosenboden stramm, mein Fräulein … Mich so zu blamieren … Ich nehme dich aus der Schule raus … Na, das wäre doch gelacht, wenn mich meine Tochter aufs Kreuz legt … Die nächste Klasse – na, du wirst schon sehen! Ich lass dich umschulen! Und in der neuen Schule, da gibt es keinen Religionsunterricht!"

 

 

 

Jos Ansehen in der Klasse hatte gelitten. Sie war eine Lügnerin. Roswitha, die neben ihr saß, meldete sich: "Ich will nicht neben der falschen Schlange sitzen!" Und der Platz neben Jo blieb leer.

 

 

 

Fräulein von Eckstein übersah ab diesem Tag ihre gute Schülerin, wenn sie sich meldete. Jo bekam nur noch Zweien und Dreien. Im Zeugnis rächte sich die Lehrerin an dem unchristlichen Vater: "Jo könnte eine sehr gute Schülerin sein, wenn sie mit mehr Aufmerksamkeit dem Unterricht folgen würde. Ursache dafür sind wohl die Verhältnisse im Elternhaus."

 

 

 

Trotzdem, Jo wurde versetzt, in die zweite Klasse.

 

 

16. Was KZs waren und warum der neue Pappi Kommunist wurde

 

 

 

Die Familie saß beim Abendbrot. Jo konnte den neuen Pappi immer noch nicht leiden. Sie beobachtete jede seiner Gesten und Blicke und fand immer etwas auszusetzen: Mal sah er sie zu streng an, Jo fand: sehr unfreundlich, mal beachtete er sie nicht. Nein, mit dem neuen Pappi konnte sie sich nicht anfreunden.

 

 

 

Der neue Pappi schob den Teller von sich und beugte sich über den Tisch. "Also erzähl mal, Jo – wie war es in Wiek auf Föhr? Stimmt es, das mit den Knüppeln?" Sein Blick wurde streng. "Aber diesmal schwindelst du nicht! Sonst lernst du mich kennen!"

 

 

 

"Ja, Ehrenwort! Ich habe zweimal Keile gekriegt." Jo hob die Schwurhand.

 

 

 

Die Mutter warf ein: "Na, dann wirst du sie auch verdient haben!"

 

 

 

"Eben nicht. Ich war unschuldig, jedesmal. Ein Mädchen hat Keile gekriegt, weil sie ihre Nase nicht geputzt hatte. Und Mariechen fast jeden Tag, weil sie Bettnässerin war. Und ich, weil ich gebrochen habe und dann war die Puppe kaputt. So war das!"

 

 

 

"Du bist immer unschuldig, wenn du erwischt wirst."

 

 

 

"Rita, lass mal", der neue Pappi grinste, "der Apfel fällt nicht weit vom Stamm."

 

 

 

"Na hör mal!" Die Mutter brauste auf. "Komm mir nicht so! Das ist, weil sie so lange bei meiner Mutter war. Da konnte sie tun und lassen, was sie wollte."

 

 

 

"Ich werde mich beschweren", sagte der neue Pappi. "Das ist ja unglaublich, wie man in dem Sanatorium mit den kranken Kindern umgegangen ist. Die Schwestern, Rita, wenn du meine Meinung wissen willst, müssen KZ-Aufseherinnen gewesen sein. Die sind dort in Wiek untergekrochen. Na, das gibt einen ordentlichen Krach! Und die Gesichter, die will ich sehen!"

 

 

 

Jo saß nachdenklich da. "Was war das eigentlich – ein Kazett? Ich bin schon groß, mir kannst du jetzt alles erzählen."

 

 

 

"Ein KZ, Jo", und jetzt wurde der neue Pappi sehr ernst, "ein KZ war das Schlimmste, was sich ein Mensch vorstellen kann. Es war ein Gefangenenlager, dort wurden Menschen ermordet. Mit Absicht, ja, Jo. Mit Hunger und Prügel und Gas. Wie Fliegen sind sie gestorben. Es war viel schlimmer als der Hunger und die Kälte in Russland, viel, viel schlimmer. Aber den Russen, denen ging es ja auch nicht gut, die hatten selbst gehungert. Und wir, dem Hitler seine Soldaten, wir waren schuld daran."

 

 

 

"Aber dass sie Tante Heidelinde …"

 

 

 

"Hör mir auf, Rita, mit Tante Heidelinde! Was meinst du, was wir Deutschen in Russland getan haben? Ich war im Kaukasus, glaub mir, fein waren wir auch nicht."

 

 

 

Die Mutter war beleidigt. "Du musst es ja wissen."

 

 

 

Jo wurde immer nachdenklicher. "Das verstehe ich nicht. Warum wurden dort Menschen ermordet? In den Kazetts?"

 

 

 

"Jo, darüber kann man lange reden. Weil die Kapitalisten  … Sie haben zu Hitler gesagt, jetzt regier du mal, wir haben die Schnauze voll von den Arbeitern, und der hat sie in seine KZs gesteckt und ermordet."

 

 

 

"Wen?"

 

 

 

"Na, die Arbeiter. Und die Juden. Und die Polen. Und die Tschechen. Und die Italiener und Franzosen. Und die Rotarmisten. Alle, alle waren seine Feinde. Die ganze Welt war sein Feind."

 

 

 

"Dann war der Hitler aber ein Mörder!"

 

 

 

"Worauf du Gift nehmen kannst. Übrigens, Jo: Ab Herbst gehst du in der Pflugstraße zur Schule."

 

 

 

"Pflugstraße? Aber das ist doch im Russensektor!"

 

 

 

"Na und? Die Russen sind scharf auf kleine Mädchen wie dich, die braten dich am Spieß, und die Knochen werfen sie in die Latrine." Er lachte.

 

 

 

Der neue Pappi wurde wieder ernst. "Du wirst dich schon zurechtfinden im Russensektor. Der Weg ist genausoweit wie zur Schule Müllerstraße. Aber vorher, Jo – vorher verreist du. In ein FDJ-Ferienlager, an den Üdersee. Weißt du, wo das ist?"

 

 

 

"Nee. Ich kenn nur die Nordsee und den Nordhafen."

 

 

 

"Ich zeig ihn dir auf dem Atlas." Der neue Pappi kramte in seinen Papieren. "Da ist er doch. Also der Üdersee. Da ist er doch! Der blaue Fleck, das ist er, der Üdersee. Bei Finowfurth. Schön ist es da, ich war da mal mit den Jungpionieren, in den zwanziger Jahren, im Zeltlager. Ihr schlaft in Zelten."

 

 

 

"Und was ist FDJ?"

 

 

 

"Tja, die FDJ, also die FDJler, das sind große Jungs und große Mädchen. Die wollen jetzt, dass es keinen Krieg mehr gibt. Aber früher wollten sie für Hitler sterben. Sie sind schon größer als du, du bist dort die Kleinste. Ich habe das durchgedrückt. Arbeiterkinder gehören an die frische Luft. Nächste Woche geht es los."

 

 

 

"Und wo ist die Nordsee? Zeig sie mir!"

 

 

 

"Was willst du denn noch mit der Nordsee? Hier, das Blaue, das ist sie."

 

 

 

Jo staunte. "Ooch, so groß ist das Meer! Viel größer als der Üdersee. Aber am Meer war es schön. Die Wellen, und die Möwen …"

 

 

 

"Am Üdersee ist es auch schön. Und Lebertran gibt es dort auch nicht."

 

 

 

"Kein Lebertran? Dann fahre ich mit! Aber nur, wenn es keinen Lebertran gibt!"

 

 

 

"Rita, pack den Koffer, Jo will verreisen!" Der neue Pappi lachte. "Du bist mir vielleicht eine Marke. Schade, dass Veronika noch nicht mitdarf, die müsste auch mal an die frische Luft. Aber, mein Fräulein: Benimm! Sonst wirst du zurückgeschickt. Und wenn du den großen Jungs die Hucke vollschwindelst – na, du weißt, was große Jungs dann mit dir machen!"

 

 

 

"Ach, da habe ich keine Angst. Ich kann schnell rennen! Außerdem war ich unschuldig, damals in der Schule, wegen Herrn Wipprecht. Immer hacken alle auf mir rum."

 

 

 

"Zum Beispiel ich, Jo." Die Mutter räumte den Abendbrottisch ab. "Marsch, ins Bett!"

 

 

 

"Ich muss aber noch was sagen."

 

 

 

"So, was denn?"

 

 

 

"Du bist nicht mehr der neue Pappi. Du bist jetzt ein richtiger Pappi."

 

 

 

"Und wie komme ich zu dieser Ehre?"

 

 

 

Jo sah den Pappi zweifelnd an. "Bist du Kommunist? Ingo sagt, du bist eine rote Kommunistensau. Und ich auch. Was ist das, Kommunist?"

 

 

 

"Tja, Kind, wenn ich dir das erklären könnte."

 

 

 

"Erklär es mir, bitte."

 

 

 

"Eine schwierige Frage." Der Pappi schmunzelte. "Kommunist, Jo, ist einer, der nicht will, dass Kinder hungern müssen oder im Luftschutzeller ersticken oder immer im Hinterhof spielen müssen und niemals verreisen können. Kinder sollen lachen können. Und immer soll Frieden auf der Welt sein. Und KZs soll es auch nie mehr geben. Deshalb bin ich Kommunist geworden." Er wurde wieder sehr ernst. "Damit es nie wieder Krieg gibt. Deshalb."

 

 

 

"Hm. Und da können dich die anderen nicht leiden?"

 

 

 

Nun lachte der Pappi. "Auf den Tod nicht! Die würden mich am liebsten aufhängen! Und deinem Ingo kannst du sagen, wenn er noch mal rote Kommunistensau zu dir sagt, kriegt er es mit mir zu tun."

 

 

 

"Ich sag es dir, wenn er es wieder sagt. Pappi!" Und Jo gab dem Pappi endlich den Kuss, auf den er so lange hatte warten müssen.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Die Woche verging schnell. Ein paarmal geschlafen – schon war der Koffer gepackt, und Jo verreiste, an den Üdersee, zu den Großen ins FDJ-Zeltlager – die zweite große Reise in ihrem Leben.

 

 

 

Pappi brachte sie zum Ostbahnhof. Ein paar LKWs standen bereit. FDJler in blauen Blusen hockten auf ihren Rucksäcken und Koffern, sie sangen. Andere fassten sich an die Hände und gingen in die Hocke. "Laurenzia, liebe Laurenzia mein …", sangen sie dabei. Plötzlich ein Pfiff. "Auf die LKWs! Los geht's! Beeilung!" Alles stürzte zu den LKWs. Pappi hob Jo hoch. Ein FDJler nahm sie in Empfang. "Was willst denn du Würmchen? Doch nicht etwa mitkommen?" Jo war beleidigt, sie streckte die Zunge heraus.

 

 

 

Eine FDJlerin fragte, wie alt sie sei. "Schon sieben!" Die FDJlerin lachte. "Na, dann bist du ja groß genug, deinen Koffer selbst zu tragen."

 

 

 

Der FDJler mischte sich ein: "Ich nehm deinen Koffer. Aber die Zunge, die nimmst du zurück, ich kann sonst sehr ungemütlich werden. Ich bin hier schließlich Org.-Leiter."

 

 

 

Die LKWs fuhren einer nach dem anderen los. "Jo, Jo!",  Pappi rannte neben den LKW her. "Schreib uns, ein paar Ansichtskarten! Und bade, soviel du kannst!"

 

 

 

Jo sah ihn winken und schrie etwas zurück. Dann bog der LKW um die Ecke.

 

 

17. Am Üdersee

 

 

 

Das Zelt war groß, eines für zwanzig Schläferinnen. Eine Decke über das Stroh – fertig war das Nachtlager. Überall im märkischen Sand, mitten zwischen den Kiefern und dem Ginster, standen Zelte. Und vor jedem Zelt ein Steingarten, Mosaike aus bunten Steinchen, Moospolstern und Ginsterzweigen. Es gab einen Wettbewerb: Welches Zelt hatte den schönsten Steingarten? Das Siegerzelt wurde beim Morgenappell mit einer Urkunde ausgezeichnet. Aber das Schönste am Sieg: Zwanzig hungrige Mäuler durften sich mittags Nachschlag holen. Mal gab es Grütze mit Rhabarber, mal Erbseintopf, mal Grießbrei mit selbstgesammelten Himbeeren und Blaubeeren.

 

 

 

Das Zeltlager hatte einen Appellplatz, riesig groß. Einzig die Lagerleitung saß in einem Steingebäude. Die Waschanlagen, Rohre mit nadelfeinem Wasserstrahl über primitiven Holztrögen, standen unter freiem Himmel. Ebenso die Toiletten, vielmehr die Verschläge aus grobgesägten, ungehobelten Brettern, von Zeit zu Zeit wehte Gestank von Chlor und Exkrementen zu den Zelten herüber. Über allem aber lag betäubend der Duft der Ginsterbüsche und der Kiefern – sobald man den Kopf aus dem Zelt steckte, Ginster, Sand und Kienäpfel, wohin man auch trat.

 

 

 

Im Terrarium wurde alles gefangengehalten, was da kreuchte und fleuchte: Eidechsen, Frösche, Libellen, Spinnen und Schmetterlinge. Die Arbeitsgemeinschaft Terrarium galt als die rührigste. Tagsüber wurde gewandert oder im Üdersee gebadet, es gab Sportwettbewerbe, Schnellzeichnerwettbewerbe – und einen Lagerfunk.

 

 

 

Jo schlief neben der Zeltältesten, Renate. Die hatte ständig was an Jo auszusetzen: dass sie im Schlaf zappelte, dass sie auf ihrem Strohsack keine Ordnung hielt, dass sie im Schlaf lachte und brabbelte, dass sie zu früh aufstand – Renate war eine strenge Zeltälteste. Maulend fügte sich Jo.

 

 

 

Zur Morgenwäsche ging Jo zum Üdersee. Die Großen drängelten sich morgens und abends unter Spritzen, Lachen und Gekreisch um die Waschanlage und ließen Jo nicht an den kläglichen Wasserstrahl heran. Eines Tages, als sie wieder mal die Wahl hatte zwischen Gewaschen oder nicht Gewaschen, entdeckte sie, dass der See menschenleer dalag, nur ein paar Schwäne und Enten schwammen unlustig hin und her. Ein Bootssteg reichte weit in den See hinein, dort saß sie und putzte sich mit dem kristallklaren Wasser Seewasser die Zähne. Die Schwäne und Enten schwammen herbei und bettelten um Futter. An den folgenden Morgen hatte Jo immer ein paar Stücke gemopsten Zwiebacks dabei. Es gab kaum Schöneres für Jo als diese Morgen am Steg.

 

 

 

Das Frühstück wurde an langen, groben Holztischen eingenommen, unter freiem Himmel, bei jedem Wetter. Die Großen verschlangen Riesenberge von Marmeladenstullen und sangen dazu: "Die Wissenschaft hat festgestellt, dass Marmelade Fett enthält …" Kein Frühstück ohne Gesang, keine Frühstück ohne Lachen und Herumalbern. Nach und nach fanden sich Paare, und die wohlausgeklügelte Sitzeinteilung der Lagerleitung geriet ins Vergessen.

 

 

 

Nach dem Frühstück Morgenappell, im Blauhemd Antreten auf dem Appellplatz. Ein FDJler von der Lagerleitung gab den Tagesablauf bekannt, es folgte ein Überblick über neueste Produktionserfolge, unter denen sich Jo nichts vorstellen konnte, dann Auszeichnungen für gutes und Tadel für schlechtes Verhalten, anschließend wurde die FDJ-Fahne gehisst, eine strahlende Sonne auf blauem Grund. Eine FDJlerin rief: "Heißt Flagge!" Jo rätselte anfangs, wie das gemeint sein könnte, kam aber erst dahinter, als die Flagge von einem kräftigen FDJler hochgezogen wurde. Er zog aus aller Kraft, so lange, bis die Fahne unter Quietschen und Quarren endlich am Ende der Fahnenstange wehte.

 

 

 

Eines Tages beschloss Renate, dass das gesamte Zelt Moos und Steinchen für den Zeltgarten sammeln sollte. Im Wald roch es nach Kienäpfeln und Moos, nach Sand und Ginster. Jo musste sich dicht bei Renate halten. "Ich habe keine Lust, mir vom Lagerleiter einen Tadel einzufangen, nur weil du Rabauke nicht hören kannst", begründete sie ihre Maßnahme.

 

 

 

Jo gehörte zu den Moossammlern. Was gab es in diesem Wald nicht alles für Moose! Kleine, dünne Polster, um die es sich nicht lohnte, mittelgroße Stücke und Riesenpolster. Schnell war Jos Sack mit Moos gefüllt. Aber als sie aufsah – wo waren die anderen? Sie bekam einen Schreck: Nirgends ein Weg, kein Baum, an dem sie sich hätte orientieren können!

 

 

 

"Renate! Renate! Wo bist du?" Keine Antwort. Sie stolperte durch den Wald, der plötzlich  sehr fremd war, und mutlos geworden, zog sie den Sack mit dem Moos hinter sich her. Endlich ein Weg. Wohin führte er? Erst mal sitzen, da, am Wegrand. Sie überlegte, wohin sie gehen sollte. Plötzlich raschelte es hinter ihr, etwas stürzte auf sie zu. Ein Reh flog mit einem großen Satz über sie hinweg. Sie sprang auf und lauschte. Überall raschelte es. Und wenn nun ein Wildschwein käme? Wohin sollte sie flüchten? Jo begann zu weinen, sehr leid tat sie sich.

 

 

 

Eine Eidechse huschte über ihre Beine. Irgendwo hämmerte ein Specht. Die Bäume warfen schon lange, tiefe Schatten. Die Eidechse saß ruhig zu Jos Füßen und sah sie aus stecknadelkopfgroßen Augen an. "Eidechse, hast du dich auch verlaufen?" Die Eidechse begriff nichts. Jo griff nach ihr. Was war das: Sie hatte den Schwanz der Eidechse in der Hand! Die Eidechse aber war verschwunden.

 

 

 

Es wurde dämmerig. Plötzlich das Geräusch eines Motorrades. Jo stand auf, winkte und schrie zum Fahrer. Er stoppte. "Gehörst du zum Zeltlager?" Der Mann musterte Jos verheultes Gesicht. "Hm, ich hab mich verlaufen. Meine Gruppe hat mich einfach vergessen."

 

 

 

"Na, wenn das so ist – steig auf!"

 

 

 

Die Wache am Tor schickte einen Melder zur Lagerleitung. "Wir haben sie! Wir haben sie!"

 

 

 

Der Lagerleiter kam ans Tor. Er musterte Jo streng. "Das halbe Lager sucht dich im Wald, du Göre. Und mir sitzt das Herz in der Hose! Verlaufen? So? Das bringst auch nur du fertig. Verläufst dich in einem deutschen Wald! Was hast du dir dabei gedacht, einfach auszubüchsen?"

 

 

 

"Ich hab doch … Nichts." Jo senkte den Kopf.

 

 

 

"Dachte ich mir. Dein Glück, dass du gefunden wurdest, in einer Stunde hätte dich die Polizei gesucht!"

 

 

 

Renate blickte wortlos auf Jo herab. "Ich spar mir jedes Wort! Sieh nach, ob noch was vom Abendbrot übrig ist. Oder nein, ich komm mit, sonst gehst du mir unterwegs wieder verloren!"

 

 

 

Am nächsten Morgen, beim Appell, wurde Jos Verschwinden und glückliches Wiederauffinden als erstes genannt. Alle sahen auf Jo. Der Lagerleiter sprach ein ernstes Wort: "Vorfälle wie diese ziehen künftig den bedingungslosen Ausschluss nach sich. Außerdem wird ebenfalls ausgeschlossen, wer nach Anbruch der Zeltruhe draußen erwischt wird. Die Lagerordnung wird um diesen Punkt erweitert."

 

 

 

"Da hast du ja was Schönes angestellt mit deinem Ausreißen." Renate schüttelte den Kopf. "Du hast was gutzumachen. Bring dem Tom aus Zelt 21 diesen Brief hier, wir müssen umplanen. Aber lass dich nicht erwischen! Es ist Zeltruhe, und die Nachtwache ist unterwegs. Aber wenn sie dich kriegen, verschluckst du den Brief."

 

 

 

"Hier, Renate – ich steck ihn in den Schlüpfer, da sieht ihn keiner. Kannst ganz beruhigt sein."

 

 

 

Jo schlich um die Zelte. Die Nachtwache leuchtete in die Dunkelheit. Noch einmal durfte Jo nicht auffallen! Endlich, die Nachtwache war verschwunden. Zelt 21. "Wer ist Tom?" "Hier!"

 

 

 

"Ein Brief." Jo nestelte den Brief aus dem Schlüpfer. Nachdem Tom gelesen hatte, sagte er: "Warte einen Moment, ich schreib eine Antwort."

 

 

 

Ein Halbnackter hielt Jo einen Zettel hin. "Hör mal, Kleine. Ich hätte da auch einen Brief. Zelt 10, Karola. Aber nicht lesen! Es ist geheim!" Wortlos steckte Jo beide Briefe unter den Schlüpfergummi.

 

 

 

So begann es. Jo transportierte nach dem Dunkelwerden Liebesbriefe zwischen den

 

Mädchen- und den Jungenzelten, furchtlos, pünklich, zuverlässiger als die Post. Die Nachtwache bemerkte nichts. Der Lagerleiter wunderte sich: Das nächtliche Hin und Her zwischen den Zelten hatte aufgehört. Er schrieb es seiner guten Erziehungsarbeit zu.

 

 

 

Eines Morgens, Jo saß auf dem Steg und putzte sich die Zähne, stürmte eine Horde fremder Jungen aus dem Dorf auf sie zu, und ehe sie begriff, fand sie sich im Wasser wieder. Sie ruderte mit den Armen. "Hilfe, Hilfe! Ich kann nicht schwimmen! Ihr seid gemein, seid ihr!"

 

 

 

Die Jungen auf dem Steg lachten und sahen zu, wie Jo im Wasser um ihr Leben rang. "Mit den Armen und den Beinen!", riefen sie. "Ihr seid gemein!", gurgelte Jo. Aber sie ertrank nicht. Mit den Armen und den Beinen ging es: Sie hatte schwimmen gelernt.

 

 

 

Der Juli näherte sich dem Ende, Jo hatte Geburtstag. Heute wurde sie acht Jahre alt. Renate war verschwunden. Jo ging an den Üdersee, baden und Zähne putzen. Als sie, das Handtuch über der Schulter, zurückschlenderte, empfingen sie die Mädchen aus dem Zelt: "Wo bleibst du denn? Wir haben dich überall gesucht! Sie wollen anfangen."

 

 

 

Der Lagerlautsprecher räusperte sich. "Hallo, Jo! Hier spricht Renate. Hörst du mich? Das FDJ-Zeltlager gratuliert dir zum achten Geburtstag. Ich singe dir jetzt ein Lied, es heißt 'Wahre Freundschaft'. Du hast es dir redlich verdient. Und bleib weiter so tapfer und so emsig. Muss ja nicht erklären, was gemeint ist." Ringsum lachte alles. Renate sang: "Wahre Freundschaft soll nicht wanken …" Jo wurde rot, ihr war die Aufmerksamkeit peinlich.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Die drei Wochen waren im Nu vergangen. Eines Abends hieß es: Abschlusslagerfeuer. Jo hatte nie so viele Lieder gelernt wie in diesen drei Wochen. Sie kannte alle Melodien und Texte. Die Jungen und Mädchen saßen um das Lagerfeuer herum, Pärchen umarmten sich verstohlen, sie sangen lauthals und küssten sich heimlich. Das Feuer flackerte, Jo sang aus voller Lunge mit: "Hab mein Wage vollgelade …", "Im schönsten Wiesengrunde" – ein halbes Liederbuch. Hätte es eines gegeben.

 

 

 

Am nächsten Morgen ging Jo an den See. Einsam lag er da, einsamer als sonst. Nirgends ein Schwan, nirgends Enten. Sie saß auf dem Steg, die Beine im Wasser, und blickte über den See. Am anderen Ufer Wald, kein Haus, kein Mensch. Es gab ein leises Gluckern, wenn ein Fisch an die Wasseroberfläche stieß, Libellen umflogen Jo. Wie schön es am See war.

 

 

 

Plötzlich Schritte auf dem Bootssteg. Renate, sie kam näher und setzte sich zu Jo.

 

 

 

"Na, traurig? Weil es jetzt zu Ende ist?"

 

 

 

"Nein … doch, ein bisschen."

 

 

 

"Ich bin auch traurig. Jetzt fahre ich wieder in meine Stadt zurück, in Schleswig-Holstein. Und wenn ich an die Leute dort denke …"

 

 

 

"Sagen sie zu dir auch Kommunistensau?"

 

 

 

"Schlimmeres, Jo. Viel Schlimmeres. Ach ja, eine schöne Zeit, ein schöner Sommer.

 

Man muss kämpfen, dass es so bleibt."

 

 

 

"Vielleicht, Renate … Vielleicht sehen wir uns später wieder. Wenn du mal nach Berlin kommst. Ich wohne Kellerstraße 11."

 

 

 

"Deine Adresse merke ich mir, Jo." Renate umarmte sie.

 

 

 

Ein Schwan näherte sich dem Bootssteg. Auffordernd sah er die beiden Menschen an, das große und das kleine Mädchen. Dann, als er verstanden hatte, dass es heute sinnlos war zu betteln, schwamm er davon, hinein in den See.

 

 

18. Die neue Schule

 

 

 

"Im Herbst kriegst du noch ein Schwesterchen. Oder ein Brüderchen", sagte die Mutter, "im November."

 

 

 

Jo war wütend. "Noch so ein Schreihals? Ich bin froh, dass Veronika schon spricht. Alles muss ich vor ihr verstecken. Sie hat mir schon ein Buch zerrissen! Und wo soll das Baby schlafen? In meinem Bett? Dann ziehe ich eben aufs Klo!"

 

 

 

Die Familie wurde immer größer, und in der Wohnung wurde es immer enger. Kaum wusste Jo noch, wo sie Schularbeiten machen konnte. Den Stubentisch hatte der Vater mit seinen Büchern belegt, zum Essen wurde abgeräumt. Am Küchentisch wurde alles andere erledigt: Brot geschnitten, das Mittagessen zubereitet – er war Ablage für alles. Eine Ecke hatte sich Jo für die Schularbeiten reserviert. Die würde bestimmt das neue Baby bekommen. Jo war wütend, und wie!

 

 

 

Sie zog sich zurück von der Familie. Der Kohlenkasten in der Küche war der einzige Ort, der noch ihr gehörte. Dort las sie. Alles, was sie in die Finger bekam: das Rundfunkprogramm der vergangenen Woche, das ihr die Großmutter gab und das sie vor dem Vater verstecken musste ("Wir hören kein Westradio!", sagte er. Dabei gab es bei Borkmann gar kein Radio). Die Mädchenbücher der Mutter verstand sie nur halb, außerdem kamen sie ihr nur an Stellen interessant vor, wo sich die Liebenden küssten. Ihre Märchenbücher hatte sie alle schon gelesen: Grimms Märchen, Bechsteinmärchen, russische Märchen.

 

 

 

Die Eltern des Vaters wohnten im dritten Stock. Auch mit ihnen schien es Krach gegeben zu haben. Später erfuhr Jo, was geschehen war: 1933 war der alte Borkmann in die Nazipartei eingetreten. Das konnte ihm Jos Vater, sein damals halbwüchsiger Sohn, nicht verzeihen. Einmal war Jo oben, im dritten Stock. Es roch nach Schimmel. Jo wurde von der Mutter des Vaters übersehen, sie war nur die angeheiratete uneheliche Tochter. Von diesem Tag an ging Jo nur hinauf in den dritten Stock, wenn es verlangt wurde.

 

 

 

Die Kinder der Kellerstraße sah sie jetzt seltener, sie musste sich um Veronika kümmern. Viel war nicht anzufangen mit der Schwester. Sie verstand noch nichts, plapperte dummes Zeug und zerriss Bücher. Und wenn Jo ihr die neuen Lieder vom Üdersee vorsang, hörte sie nicht zu.

 

 

 

Wolfgang machte sich lustig über Jo: "Kindermädchen, Kindermädchen!" Er gefiel Jo nicht mehr so wie früher. Wenn Ingo sie Kommunistensau nannte, stand Wolfgang auf seiner Seite. Vom FDJ-Zeltlager hatte sie nichts erzählt. Sie schwindelte: Bei einer Tante in Mecklenburg sei sie gewesen.

 

 

 

Die Mutter hatte sie mit Veronika spazieren geschickt. Wolfgang holte sie ein. "Kindermädchen, Kommunistensau!", rief er. Jo dreht sich um und holte aus. "Noch einmal, und ich knall dir eine!"

 

 

 

Wolfgang war erstaunt über Jos Wut, trotzdem lachte er. Er boxte Jo auf den Oberarm. Jo boxte zurück. "Du sagst noch einmal Kindermädchen oder Kommunistensau!"

 

 

 

"Hat ja gar nicht weh getan!" Wolfgang rieb sich den Oberarm.

 

 

 

Nein, mit den Kindern der Kellerstraße zu spielen, dazu hatte Jo jetzt keine Lust mehr. Sowieso, bald begann wieder die Schule. Die neue Schule, die im Russensektor. Wenn die anderen erfahren würden, dass sie jetzt in die Russenschule ging, wäre das Wasser auf ihre Mühlen und sie würde sich nur noch kloppen. Nein, da war es am besten, sie ging den anderen aus dem Weg.

 

 

 

Dann kam der 1. September, der erste Schultag in der neuen Schule. Die Pflugstraßenschule war nur noch eine halbe Schule, den Hauptflügel hatten Bomben getroffen, seine Ruine nahm den größten Teil des Schulhofs ein. Das Verwaltungsgebäude zur Straße war ein Backsteinbau, zerklüftet von Einschüssen, dort fand der Unterricht statt, im Keller. Über den Köpfen der Kinder liefen dicke, tropfende Heizungsrohre entlang, es war kalt.

 

 

 

Es gab Schichtunterricht: eine Woche Unterrichtsbeginn früh um acht, die zweite Woche begann nachmittags um zwei Uhr.

 

 

 

Herr Menzel war Neulehrer. So nannte man die jungen Enthusiasten, die bei schmaler Ration abends auf der Schulbank saßen und tagsüber mit viel Einfallsreichtum die Kinder unterrichteten. Sie waren selbst noch Schüler, oft ehemalige Hitlerjungen oder vom BDM, falls sie älter waren, eben erst aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Lehrer mit Nazivergangenheit durften im Russensektor nicht unterrichten. Viele von ihnen gingen deshalb in die Westsektoren, wo man nicht so genau hinschaute.

 

 

 

Herr Menzel trug einen fadenscheinigen braunen Straßenanzug, darunter eine undefinierbare weiße Bekleidung, am Hals einen weißen Gummikragen. Ihm war immer kalt, er zitterte, wenn er vor der Klasse stand. Auch die Kinder zitterten, und so fanden sie es nicht komisch, wenn Herr Menzel ihnen mit dünner Stimme Diktate ansagte.

 

 

 

Es wurde in Hefte geschrieben, mit Tinte. Das Papier war so grau und so schlecht, dass man die durchgedrückte Schrift auf der Rückseite spiegelverkehrt lesen konnte. Die schwarze Flüssigkeit in den Tintenfässern zerlief, sobald sich die Feder spreizte, und hinterließ in Jos Heften dicke, unschöne Kleckse. Sie musste erst einmal lernen, mit Tinte zu schreiben, die anderen Kinder hatten es bereits in der ersten Klasse gelernt. Herr Menzel schüttelte den Kopf, wenn er die Diktate zurückgab: "Null Fehler, Jo. Aber Schrift vier. Macht leider nur eine Zwei. Mach dir nichts draus, Marx hat schlimmer geschrieben." Die Klasse lachte. Jo fand nichts zum Lachen, sie schämte sich. In Schrift eine Vier, auf der Schiefertafel war ihr das nie passiert. Überhaupt, sie kannte einiges nicht, was die anderen Kinder kannten: den monatlichen Wandertag, und auch im Rechnen waren sie viel weiter, sie rechneten bis tausend und kannten das Einmaleins bis zur Fünf. Jo hatte vieles aufzuholen.

 

 

 

Und was Jo auch nicht kannte: Junge Pioniere. Sie trugen blaue Halstücher. Sie kamen nie ohne Schularbeiten in die Schule. Sie sagten nicht vor. Sie schwatzten im Unterricht nur, wenn sie nicht erwischt wurden. Sie waren die besten Schüler in der Klasse. Bei Frühunterricht trafen sie sich nachmittags zum Pioniernachmittag, und am nächsten Tag erzählten sie Neuigkeiten, dass die anderen Kinder staunten. Bei den Pionieren konnte man was erleben, musste nicht nur zu Hause auf dem Kohlenkasten hocken.

 

 

 

"Pappi, ich will Pionier werden", sagte Jo eines Abends. "Ich soll deine Unterschrift bringen."

 

 

 

Der Vater staunte: "Du? Pionier? Warum denn?"

 

 

 

"Die Pioniere sind unsere Vorbilder, sagt Herr Menzel, sie machen so viele Sachen. Zum Beispiel singen sie Lieder, Pionierlieder und Volkslieder. Auch russische Lieder, und sie gehen in Ausstellungen, und manchmal machen sie Wanderungen. Und sie haben zehn Gebote. Und für den Frieden sind sie auch. Sie haben auch ein fortschrittliches Bewusstsein. Deshalb dürfen nur die besten Schüler Pioniere werden, sagt Herr Menzel."

 

 

 

"So, das sagt Herr Menzel auch? Dass sie ein fortschrittliches Bewusstsein haben?" Der Vater schmunzelte. "Darüber lässt sich reden. Unter einer Bedingung: Schriftzensur mindestens Zwei, sonst wird es nichts mit dem Pionier, Fräulein. Du sagst selbst: Nur die Besten!"

 

 

 

"Aber ich bin doch nicht schuld! Die Tinte und das Papier, Pappi!"

 

 

 

"Dann frag ich mich aber, warum die anderen Kinder nicht auch eine Vier in Schrift haben. Haben sie bessere Tinte und besseres Papier?"

 

 

 

Der Vater hatte recht: Sie musste sich mehr Mühe geben. Nach den Schularbeiten übte sie das Schreiben, seitenlang. Täglich wurde ihre Schrift besser. In Diktaten erhielt sie jetzt immer eine Drei in Schrift, Endzensur Eins. "Gerade man so", sagte Herr Menzel.

 

 

 

Der Vater war immer noch nicht zufrieden. "Eine Zwei in Schrift, hab ich gesagt. Das ist auch fortschrittliches Bewusstsein!"

 

 

 

In den Westsektoren hatte es im Sommer eine Währungsreform gegeben. Der Vater schimpfte: "Spalterwährung! Judaslohn!" Von einem Tag auf den anderen prangten die Läden in bunten Farben, die Schaufenster waren gefüllt mit Dingen, die Jo nie gesehen hatte. Überall hatten sich Buden angesiedelt, bei denen man für wenige Pfennige Kaugummi, Sahnebonbons und Schokolade kaufen konnte. Jo bettelte die Großmutter: "Kauf mir doch einen Kaugummi, bitte, Oma!" Aber Großmutter hielt nichts von Kaugummi. "Ich kauf dir lieber Schokolade, die ist nahrhafter", sagte sie.

 

 

 

Jo strich an den bunten Läden vorüber. Bei Hertie, dem Kaufhaus, stand sie lange vor einer großen offenen Vitrine: ein ganzer Berg von in Zellophanpapier eingewickelten Füllhaltern, Stück eine Mark. Einen solchen Füllhalter haben! Dann verliefe die Tinte nicht mehr in den Heften, sie bekäme eine Zwei in Schrift und würde Junger Pionier werden dürfen!

 

 

 

Jo bettelte: "Oma, liebe Oma, ich brauche einen Füllhalter. Bei Hertie gibt es ganz billige, nur eine Mark! Dann will ich auch keinen Kaugummi haben und keine Schokolade. Bitte, Oma. Nur einmal, nur einen Füllhalter."

 

 

 

"Füllhalter? Da frag mal deinen Vater, der ist dafür zuständig. Das kann ich Opa nicht erklären, der kontrolliert mein Haushaltsbuch."

 

 

 

Der Vater arbeitete inzwischen bei der DEFA in Babelsberg. Das Gehalt im Osten war niedrig, es wurde zu sechzig Prozent in Ostwährung und zu vierzig Prozent in Westwährung ausgezahlt. Von den vierzig Prozent West mussten die Miete, die Strom- und Gasrechnungen bezahlt werden. "Nur harte Währung, was soll ich mit dem Klopapier", sagte der Hauswirt, als der Vater ihm die doppelte Miete in Ostwährung anbot. Von den sechzig Prozent Ostgeld wurden Lebensmittel eingekauft, in der Boyenstraße, im Russensektor, wo Großmutter vor dem Krieg Stammkundin gewesen war.

 

 

 

Die Eltern konnte Jo also nicht bitten, ihr einen Füllhalter bei Hertie zu kaufen. "Oma, ich will nie mehr im Leben Schokolade essen. Ich will nur einmal einen einzigen Füller. Schenk ihn mir doch zu Weihnachten! Bitte, Oma. Dann stänkere ich auch nicht mehr mit Siggi."

 

 

 

"Den Siggi siehst du jetzt doch gar nicht mehr. Kommt abends, verschwindet morgens in aller Frühe. Wie ein Schlafbruder. Aber gut, Jo, ich lasse mich breitschlagen. Aber dass du Opa nichts sagst! Dafür gibt es heute aber auch keine Schokolade. Opa sieht sich mein Haushaltsbuch ganz genau an. Da kann ich nicht schreiben: Füller für Jo. Der würde einen Anfall kriegen. Ich schreibe: Schokolade für Jo." Und bekümmert fügte die Großmutter hinzu: "Und das alles, weil der Rita Ihrer bei den Roten ist. Zustände sind das. Den Füller musst du deinem Vater aber erklären."

 

 

 

"Ooch, da fällt mir schon was ein, Oma."

 

 

 

Und dann hielt Jo den Füller in der Hand. Ein richtiger Füller! Andächtig entfernte sie das Zellophanpapier und füllte die Tinte ein. Probehalber kritzelte sie ihren Namen auf ein Stückchen Packpapier. Gestochen scharf stand er da, in blauer Tinte, wie gedruckt: Jo. Ohne Faserspuren, ohne Kleckse. Sie würde nicht nur eine Zwei, sondern sogar eine Eins in Schrift bekommen!

 

 

 

Und jetzt, jetzt endlich konnte sie Junger Pionier werden.

 

 

19. Bei den Pionieren

 

 

 

Es war ein Junge geworden. Die Mutter hielt das Baby im Arm und zeigte es Jo: "Sieh mal, wie hübsch er ist." Jo schluckte. Hübsch! "Und die Beule am Kopf?"

 

 

 

"Ach das." Die Mutter fuhr liebkosend über das Babyköpfchen. "Das ist eine Geburtsbeule. Geht wieder weg."

 

 

 

Jetzt waren sie drei Kinder. Drei Kinder und zwei Erwachsene in Stube und Küche. Und so ein hässliches Baby! Mit Beule am Kopf!

 

 

 

Der Vater staunte: "Wie hast du das angestellt? Meine Tochter hat in Schrift eine Eins! Na, da muss ich doch zustimmen. Jo, du hast mich aufs Kreuz gelegt! Also, Fräulein, du darfst Pionier werden."

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Zur Pioniergruppe gehörten Jörg, Gabi, Trapper, Wölfchen, Dieter und Ilona. Ilona war die beste Schülerin der Schule. Sie war ein hübsches Mädchen: tiefschwarze lange Zöpfe, in die sie rote oder weiße Seidenschleifen band, dunkle Augen. Alle Jungen wollten sie zur Freundin haben.

 

 

 

Jörg bestimmte, was die Pioniere an den Pioniernachmittagen tun müssten: Mal mit sowjetischen Pionieren Erfahrungen austauschen, mal um den Müggelsee herumwandern, mal Rechenschaftsberichte abgeben.

 

 

 

Gabi war neidisch auf Ilonas Zöpfe. Sie ließ sich auch Zöpfe wachsen, aber ihre waren dünn und aschgrau. Ständig hatte sie an Ilona etwas auszusetzen. "Die kiekt ja so komisch", sagte sie. Jo wurde wütend. "Pioniere sind nicht neidisch! Und sie zanken sich nicht wegen der doofen Zöpfe!"

 

 

 

Trapper hieß so, weil er immer von Trappern und Indianern schwärmte. "Du müsstest eigentlich Zappelphilipp heißen", sagte Jo. "Man zieht an deiner Quasselstrippe, und schon zappelst du und erzählst von Winnetou." Trapper wurde rot. Er war beleidigt. "Und du? Du müsstest Schmierfink heißen!" Jetzt war Jo beleidigt. "Aber ich habe mich gebessert. Selber Schmierfink!"

 

 

 

Wölfchen und Dieter waren Freunde. Ständig waren sie auf der Suche nach verborgenen Schätzen. Einmal, prahlte Wölfchen, hatten sie in einer Ruine einen vergrabenen Schatz ausgebuddelt. "Und wo ist der?" Wölfchen geriet ins Stottern. "Das … das weiß ich nicht mehr. Dieter hat den Schatz." Jo lachte. "Mir kannst du viel verzählen! Einen Schatz! In der Ruine! Da findest du doch höchstens noch einen verbeulten Stahlhelm!"

 

 

 

Pionierleiterin war Lydia, eine junge Frau, die sich immer ein geblümtes russisches Tuch um die Schultern schlang. Sie hatte mit ihren Eltern in der Sowjetunion gelebt und war erst vor kurzem nach Deutschland zurückgekommen. Sie sprach halb deutsch, halb russisch. Lydia kannte viele Spiele für Kinder, ganz andere, als Jo kannte. Zum Beispiel: "Wir fahren nach Jerusalem" oder Gedichteraten, oder jemand nannte eine Jahreszahl, und die anderen mussten erraten, welcher Dichter in diesem Jahr geboren wurde. Lydia sang gern. Alle Kinder lernten von ihr russische Lieder. Am besten gefiel Jo das Lied "Wolga, Wolga, matsch radnaja", sie sang es öfter, wenn sie Schularbeiten machte.

 

 

 

Lydia hatte in Moskau in einem Chor gesungen, und sie war traurig, dass sie in Deutschland noch keinen neuen Chor gefunden hatte. "Am besten, wir gründen selbst einen Chor!", schlug sie vor. Alle waren begeistert, am meisten Jo. "Ich kenne alle Volkslieder, ich habe sie im FDJ-Zeltlager gelernt." Und Lydia lernte von Jo die Melodien und Texte der deutschen Volkslieder, während Lydia sich mit russischen Liedern revanchierte.

 

 

 

Zum erstenmal trat der Chor zur Weihnachtsfeier auf. Weil es einen großen Raum für alle Kinder der Schule nicht gab, wurde Weihnachten auf dem Schulhof gefeiert. Es war kalt, aber die Begeisterung machte die Herzen der Kinder warm. Und als der Chor dann sang, klatschte die ganze Schule, bis die Finger wund waren.

 

 

 

Der Chor sang auch in anderen Schulen, er wurde ein bisschen berühmt wegen der melancholischen russischen Lieder. Zwar verstand niemand ein Wort, aber Lydia übersetzte die Texte. Einmal fuhr der Chor sogar bis nach Greifswald zu einem Chorwettbewerb. Einen Preis errang Lydias Chor nicht, aber eine Fresstüte wurde jedem Sänger als Trostpreis in die Hand gedrückt. Dropse waren darin, Kekse, eine Dauerwurst und ein Apfel.

 

 

 

Die Mutter freute sich über die Dauerwurst. "Endlich mal was auf der Stulle! Nicht immer bloß Margarine! Ich weiß schon gar nicht mehr, wie Wurst schmeckt." Hunger litten die Borkmanns nicht, aber mehr als Margarinestullen zur Schule und sonntags zu Mittag Weißkohl- oder Mohrrübeneintopf konnte sich die Familie nicht leisten, schon gar nicht Fleisch oder Wurst. Die Familie war zu groß geworden und das Gehalt des Vaters zu klein geblieben. Großmutter steckte Jo etwas zu, heimlich, damit es der Großvater nicht erführe: ein halbes Weißbrot, einen angebrochenen Rama-Margarinewürfel, eine Tüte Mehl oder Gries, für die Kinder Schokolade.

 

 

 

Anfang Dezember gab es eine Überraschung: Ein Paket war angekommen. Aus der Schweiz, vom Roten Kreuz. Die Mutter öffnete es. "Nein, so etwas! Deine Hylusdrüse zahlt sich aus, Jo! Sieh mal, was sie dir schicken." Die Mutter hielt eine Flasche in der Hand: Lebertran!

 

 

 

Zwei Knäuel weicher rosa Wolle lagen im Paket, zwei Büchsen Corneedbeef, eine Tüte Zucker, Bonbons und ein Stofftier, eine Maus, die quietschen konnte. "Bedank dich beim Roten Kreuz, mal ihnen was Schönes und schreib ein Gedicht dazu, das kannst du doch", sagte die Mutter.

 

 

 

Der Vater, als er die Bescherung des Roten Kreuzes sah, geriet in Wut. "Das haben wir nicht nötig, dass sie uns Almosen schicken! Schick das Paket zurück, Rita!" Die Mutter war störrisch. "Das soll Jo entscheiden, es ist ihr Paket." Und Jo entschied: Das Paket bleibt, die Maus bekommt Veronika. "Aber den Lebertran trinke ich nicht!"

 

 

 

Der Vater lachte. "Das Beste am Paket, und du willst es nicht. Dann trink ich die Flasche aus!" Und er nahm den Lebertran und trank ihn auf einen Zug aus. Jo zählte die Glucker in seiner Kehle. Sie war starr vor Staunen: Das war wirklich eine Leistung!

 

 

 

Großmutter, wenn Jo sie besuchte, strickte. Ein ganzes Fach im Vertiko hatte sie mit bunter Wolle zugestopft. "Jo, Kind, ich strick euch was für den Winter. Sieh mal, was ich mir für ein Muster ausgedacht habe." Großmutter strickte für jeden etwas. Zuerst für den Großvater einen dicken Schal aus grauer Angorawolle, für Siggi, den Jo lange Zeit nicht gesehen und nach dem sie auch keine Sehnsucht hatte, mehrere Paar Socken, für die Mutter ein Tuch aus Mooswolle, filigran gestrickt. Jo bekam einen blauen Pullover mit Noppen, sie trug ihn nur sonntags oder bei festlichen Anlässen. Großmutter strickte und strickte. "Mein Strickwunder", sagte Großvater.

 

 

 

Jo war wieder eine gute Schülerin geworden. Herr Menzel hielt ihr Diktatheft hoch: "Nehmt euch ein Beispiel! Da kann ich ja nur eine uneingeschränkte Eins geben!" Klaus, der neben ihr saß, stieß Jo in die Rippen: "Angeberin!"

 

 

 

Zum nächsten Pioniernachmittag hatte Jörg sich etwas ausgedacht: Den Westpolizisten ärgern. "Alle kommen mit Pioniertüchern. Und dann sag ich euch, wie wir es machen!"

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Berlin war jetzt auch äußerlich geteilt. In den Westsektoren gab es volle Läden, im Ostsektor hingen Stalinbilder in den Schaufenstern, garniert mit einem kümmerlichen Blumentopf. An den Sektorengrenzen standen Westpolizisten, bewaffnet mit einem Knüppel, auf dem Kopf einen Helm aus schwarzem Bakelit, den Tschako.

 

 

 

In der Invalidenstraße, dort, wo sie an die Müllerstraße stieß und wo später das Stadion der Weltjugend gebaut wurde, war die Grenze zwischen den Berliner Stadtbezirken Wedding und Mitte. Zwei Welten trafen hier aufeinander – in den Augen der meisten Leute, registrierte Jo, war die gute Welt die Westwelt und die schlechte Welt die Ostwelt.

 

 

 

Der Westpolizist stand stramm, hinter ihm die Ruine. Er langweilte sich und blickte aufmerksam zu den Kindern auf dem Osttrottoir hinüber. Sanft schlug er sich mit dem Knüppel an die Beine – abwartend, die Kinder mit den Pioniertüchern, den blauen Lappen, hatten irgendwas vor. Leider standen sie auf dem Trottoir des Russensektors, und so weit reichte seine Macht nicht.

 

 

 

Jörg verriet seinen Plan: "Also, einer geht hin und fragt den Polizisten irgendwas. Am besten du, Jo, du traust dich. Irgendwas Freches. Und dann machen wir einen Sprechchor: 'Nieder mit der Spalterpolizei!' Das bringt Punkte im Pioniertagebuch."

 

 

 

Jo tat, als ob sie etwas auf dem Straßenpflaster verloren hätte. Plötzlich stand sie vor dem Polizisten. "Haben Sie nicht mein Portemonnaie gesehen?" Der Polizist blieb stumm. "Na, dann sagen Sie mir doch mal, wie spät es ist." Der Polizist schob den Uniformärmel hoch und winkelte den Arm an. "Es ist, es ist – genau fünfzehn Uhr acht", sagte er. "Na, dann ist es ja doch schon ganz schön spät. Fast schon zu spät!" Jo rannte hinüber zu den anderen Kindern. Der Polizist drohte mit dem Knüppel: "Ich komm dir gleich hin!"

 

 

 

Im selben Moment begann der Sprechchor: "Nieder mit der Spalterpolizei! Nieder! Es lebe das vereinte Deutschland!"

 

 

 

Es gab wenig Passanten in dieser zerbombten Gegend, ein paar Leute blieben stehen und schimpften mit den Pionieren. "Wie die Pimpfe! Was man den Kindern heute nur für Propaganda beibringt! Wie bei Adolf! Geht erst mal in den Westen und seht euch die vollen Schaufenster an! Die Russen hämmern euch die Ostscheiße nur so in die Köpfe! Werdet erst mal erwachsen, dann könnt ihr mitreden!"

 

 

 

Jo dachte an die Margarinestullen und die Eintöpfe der Mutter. Was hatte sie von den vollen Schaufenstern?

 

 

 

Abends erzählte sie dem Vater davon. Der war nicht begeistert. "Was habt ihr Lausebande euch dabei gedacht? Gar nichts? Na, das dachte ich mir!"

 

 

 

Lydia, als sie am nächsten Tag erfahren hatte, was geschehen war, schimpfte. "Natürlich kann keiner die Westpolizei leiden, natürlich wollen wir ein einiges Deutschland. Aber doch nicht so! Es gibt schon genug Zwischenfälle an den Sektorengrenzen. Das hätte ins Auge gehen können!"

 

 

 

Die Pioniere standen mit gesenkten Köpfen vor ihr. Alle Begeisterung war verflogen.

 

Jörg prahlte: "Ich mache mir nichts aus der Meckerei. Das nächste Mal machen wir es eben schlauer."

 

 

 

Alle waren einverstanden. Aber am meisten einverstanden war Jo.

 

 

20. Der Umzug

 

 

 

Die drei Westzonen hatten sich im Frühjahr zu einem eigenen Staat zusammengeschlossen. Überall sprachen die Leute davon, als ob es ihr Land sei, diese Bundesrepublik Deutschland. Jo las die Zeitungsüberschriften in der "Täglichen Rundschau":  Kein Separatstaat! Deutschland muss eins bleiben! Aber darum scherte man sich in dem westdeutschen Staat nicht. Was blieb dem Osten übrig? Am 7. Oktober 1949 wurde als Antwort in der sowjetischen Besatzungszone die Deutsche Demokratische Republik gegründet, im Westen wurde sie nur Zone genannt.

 

 

 

Es war ein paar Tage vor Weihnachten. Jo kam aus der Schule, vom Nachmittagsunterricht, und es war schon dunkel. Bereits von weitem sah sie den Pferdewagen vor der Haustür stehen. Ach, dachte sie, Onkel Kluges Schmiede ist heute wohl überfüllt.

 

 

 

Als sie vor der offenen Wohnungstür stand, kriegte sie einen Schreck: Die Familie Borkmann zog um! Nichts hatte sie vorgewarnt: Nicht, dass der Hauswirt ein paarmal beim Vater war, nicht, dass Großmutter fragte, ob sie genug zu essen hätten, nicht, dass sie Jo jetzt öfter Lebensmittel für die Mutter mitgab.

 

 

 

Onkel Fred war da und seine Frau, Tante Lilian. Sie und die Mutter und der Vater – alle packten die Borkmannschen Habseligkeiten ein, in der Stube, in der Küche. Jo war sprachlos. Großmutter kam die Treppe herauf. "Jo, komm solange zu mir. Du stehst hier bloß im Wege herum."

 

 

 

"Was ist denn los? Warum ziehen wir um?"

 

 

 

"Frag mich." Großmutter machte ein bekümmertes Gesicht.

 

 

 

"Sag es mir, Oma!"

 

 

 

"Kind, alles kostet, umsonst gibt es nichts im Laden. Ihr seid fünf Menschen – und nur das Gehalt deines Vaters, noch dazu halb West, halb Ost – das konnte ja nicht gut gehen. Dein Vater hat ein paar Monate die Miete nicht bezahlen können. Und Opa, der Brabbelkopp, wollte deinem Vater nichts borgen. Der Stalinknecht soll mal sehen, wo er bleibt, hat er gesagt. Da hat euch der Hauswirt auf die Straße gesetzt. Ihr seid exmittiert worden."

 

 

 

"Exmittiert – was ist das?"

 

 

 

"Ich weiß nicht, wohin dein Vater mit euch umzieht. Der Bescheid lag heute früh im Briefkasten, deine Mutter hat es mir gesagt. Exmittieren – also exmittieren heißt, ihr müsst ausziehen, egal, wohin. So unmenschlich sind die Gesetze nun mal. Kein Geld – keine Wohnung. Wo doch dein Brüderchen noch so klein ist." Großmutter wischte sich eine Träne aus dem Gesicht.

 

 

 

"Wenn dein Vater keine Wohnung gefunden hat, dann heißt es Notunterkunft, irgendwo ein primitives Zimmer."

 

 

 

Jo verstand. Weil die Borkmanns zuwenig Geld hatten, darum hatten sie jetzt auch keine Wohnung mehr. Nur wer Geld hatte, durfte in der Kellerstraße 11 wohnen.

 

 

 

"Ooch, so schlimm ist das mit dem Exmittieren eigentlich auch nicht", sagte sie nach einigem Überlegen. "Unsere Wohnung ist sowieso zu eng. Die Schularbeiten musste ich auf dem Kohlenkasten machen!"

 

 

 

"Aber wer weiß, wie es jetzt wird." Großmutter umarmte die Enkelin. "Egal, wohin ihr zieht, du meldest dich in jedem Fall bei mir, dein Vater wird es mir nicht sagen. Versprichst du mir das, Jo?"

 

 

 

"Mach ich, Oma! Aber – aber was wird jetzt mit der Schule? Ich habe mich von niemandem verabschiedet."

 

 

 

"Das holst du nach, Kind. Ihr habt jetzt andere Sorgen."

 

 

 

Es war fast Mitternacht, als die Mutter klingelte. "Es geht los, Jo. Gib Oma einen Kuss."

 

 

 

"Und wohin zieht ihr, Rita?"

 

 

 

"Helmut will mich überraschen. Er hat heute in aller Schnelle eine Wohnung aufgetrieben, sagt er, zwei Zimmer, mit Bad und Balkon. Ach, Mutter!" Mutter und Tochter lagen sich in den Armen.

 

 

 

Jo stand dabei, und sie spürte, irgend etwas ging an diesem Abend zu Ende. Was es war, wusste sie nicht, halb hatte sie Angst, halb freute sie sich.

 

 

 

Das Pferdefuhrwerk war jetzt hochbepackt. Alle Möbel der Borkmanns hatten Platz auf dem Wagen gefunden: der Kleiderschrank, die Betten, der Tisch, die Stühle, der Küchentisch, der Kohlenkasten. Ganz oben lag auf dem Rücken der Küchenschrank.

 

 

 

"Rauf mit dir!" Der Vater hob Jo hoch, auf den Küchenschrank. "Halt Veronika fest."

 

Veronika schmiegte sich an Jo, sie schlief.

 

 

 

Der Vater kutschierte. "Hü, Brauner!" Das Pferdchen zog an. Die Mutter saß auf dem Kutschbock, neben dem Vater, das Baby im Arm.

 

 

 

Sie fuhren durch das nächtliche, ausgebombte Berlin, an leuchtenden Schaufenstern vorbei und durch dunkle, nur schwach beleuchtete Straßen. Die Straßen wurden immer dunkler, es war kalt. Jo zitterte und drückte Veronika an sich.

 

 

 

"Wo sind wir hier, Pappi?"

 

 

 

"Prenzlauer Berg."

 

 

 

Und später, nach Stunden: "Und jetzt, wo sind wir jetzt?"

 

 

 

"Treptow."

 

 

 

Jo wusste nicht, dass es solche Orte wie Prenzlauer Berg und Treptow überhaupt gab.

 

Sie sah kaum Ruinen. "Als ob es hier keinen Krieg gegeben hätte", sagte sie.

 

 

 

"Du wirst Augen machen, wenn wir da sind. Dort gibt es überhaupt keine Ruinen."

 

 

 

"Und wo – wo ist das: da?"

 

 

 

"Wird nicht verraten."

 

 

 

Jo war müde, sie schlummerte ein. Von einem Ruck erwachte sie. Das Pferd wieherte.

 

 

 

"Alles aussteigen! Endstation!"

 

 

 

Jo kletterte vom Küchenschrank herunter. Es war ein kleiner Hauseingang, nur für Menschen, kein breiter und hoher für Pferdefuhrwerke wie in der Kellerstraße. Onkel Fred und Tante Lilian warteten schon vor der Tür.

 

 

 

"Als erstes die Betten!" Die Mutter war aufgeregt. "Die Kinder sind müde. Ich hatte schon Angst, Jo fällt mir vom Küchenschrank."

 

 

 

Jo stieg die fremde Treppe hoch. Es roch nach Bohnerwachs. Drei Wohnungstüren in jedem Stock, hellgrüne Türen. Im ersten Stock stand eine Wohnungstür offen. Hier also, hier würden die Borkmanns ab heute wohnen.

 

 

 

Jo trat ein. Ein breiter, langer Flur. Jo staunte: Hier konnte man sogar schaukeln!

 

Das erste Zimmer war nicht allzu groß, aber auch nicht so klein wie die Stube in der Kellerstraße, ein breites Doppelfenster, ein brauner Ofen. Das andere Zimmer war groß.

 

 

 

Sie suchte die Küche, fand sie endlich. Statt eines Fensters gab es eine Balkontür. Jo trat auf den Balkon. Ein paar Büsche, es war der Hof, auf den sie blickte. Baumwipfel hoben sich im Mondschein von der Dunkelheit ab. Das war kein Hof, das war ein Wald!

 

 

 

Onkel Fred und der Vater schleppten den Küchenschrank. "Hierher, Fred, an die Wand. Den Tisch dann in die Mitte. Und Jo, steh nicht rum. Ins Bett mit dir!"

 

 

 

"Ich kann heute nicht schlafen. Es ist so schön hier."

 

 

 

"Morgen ist es auch noch schön. Ins Bett, keine Widerrede!"

 

 

 

Unbedingt musste Jo noch das Bad sehen. Ein Bad! In der Wohnung! Dass es so etwas gab! Das Bad war schmal – eine Wanne, ein Badeofen, ein Klo, ein schmales Fenster.

 

 

 

Jos Bett stand im kleineren Zimmer. Veronika schlief jetzt in Jos altem Kinderbett. Jürgen lag, den Daumen im Mund, in dem neuen Kinderbett. Sonst war das Zimmer leer. Jo war im Nu eingeschlafen.

 

 

 

                                                           *

 

 

 

Die Borkmann-Kinder schliefen lange, bis in den Mittag hinein. Am Küchentisch saßen sie dann alle zusammen. Die Mutter hatte gekocht, ein Festtagsmahl: Buletten mit Rotkohl.

 

 

 

"Ab heute", sagte sie, "gibt es Küchendienst. Morgen bist du dran, Jo."

 

 

 

"Aber ich kann doch gar nicht kochen!"

 

 

 

"Dann lernst du es."

 

 

 

Der Vater lachte. "Wird schon schiefgehen, Rita. Jo ist erfinderisch."

 

 

 

Die Mutter wurde ernst. "So, mein Gatte und Geheimniskrämer, hättest du jetzt die Güte, uns endlich zu verraten, wo wir uns hier befinden?"

 

 

 

Der Vater nahm einen Bissen in den Mund. Er nuschelte. Jo verstand nicht.

 

 

 

"Wo? Ich höre wohl nicht richtig!" Die Mutter stemmte empört die Arme in die Seiten.

 

 

 

"Du hörst richtig, Weib: in Köpenick. Im tiefsten Berliner Osten. Mitten in Sibirien.

 

Was dagegen?"

 

 

 

"Nichts dagegen", sagte Jo. "Ganz und gar nicht! Wo wir jetzt in der Wohnung schaukeln können!"

 

 

 

Der Vater lachte schallend, dann lachte die Mutter. Veronika, die nicht begriff, warum die anderen lachten, lachte mit.

 

 

 

Alle Zimmertüren standen offen. Auf der Hauptstraße fuhr ratternd eine Straßenbahn vorbei. Von unten waren Stimmen zu hören, jemand lachte. Und morgen ging die Schule los, die neue Schule, die dritte. Jo seufzte.